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Fassbinders „Welt am Draht“: Aber wie er rennt, tigert, springt und flankt!

Er ist nicht Stiller. Oder jedenfalls ist es kompliziert. Fred Stiller, die Hauptfigur von „Welt am Draht“, ist ein Rad im Getriebe, das zu zweifeln beginnt. An sich, am Getriebe. Das Getriebe: eine zukünftige Welt, von Rainer Werner Fassbinder und seinem brillanten Ausstatter Kurt Raab (der auch mitspielt) spiegelreich vorgestellt, als Verfilmung des selbst schon ziemlich großartigen Romans „Simulacron 3“ von Daniel F. Galouye. Wir schreiben das Jahr 1973. Der WDR produziert. Mehr als drei Stunden lang ist der Zweiteiler. Und so geht der Zweifel: Fred Stiller arbeitet in einer Firma, die in Computerschaltkreisen eine Simulationswelt errichtet hat, vor allem zu Marktforschungszwecken. Merkwürdige Geschehnisse um ihn herum bringen Stiller auf die Idee, dass auch seine eigene Welt nichts anderes als eine Schaltkreissimulation ist.

Klaus Löwitsch spielt diesen (Nicht)Stiller als austrainierten Körpermenschen, dem man höchstens die philosophische Formulierung des Zweifels (Plato, Aristoteles) nicht ganz abnimmt. Aber wie er rennt, tigert, springt, über Hindernisse flankt, schießt, zum Sex sich entkleidet, das hat man im deutschen Kino so sonst selten gesehen. Viel Sex im grafischen Sinn gibt’s zwar nicht, ist ja Fernsehen für die Hauptsendezeit. Im weiteren Sinn aber: Holla!

Überhaupt enthält „Welt am Draht“ eine spektakuläre Attraktion nach der anderen. Eine Kamera, die die unglaublichsten Spiegelkabinettkonstruktionen durchkurvt und immer im rechten Moment choreografisch raffiniert in der Gegend herumgeschobene Figuren noch per Spiegelglas doppelt und dreifach in eine berückende Bewegtkomposition baut. Mit einfachen Mitteln hat Kurt Raab einen futuristisch blinkenden Raum gezimmert. Gegen das, was Fassbinder und sein Kameramann Michael Ballhaus dann aber in einem fantastischen Special-Effects-freien Dialogbildparcours damit anstellen, ist die „Bullet Time“ der themenverwandten „Matrix“-Trilogie glatt ein Witz.

Eine unheimliche Welt

Völlig irre ist für den Archäologen deutscher Schauspielkunst der Anblick von Haupt- und Nebendarstellern. Direkt von der Zadek-Bühne als Firmenchef-Dunkelmann Siskins gecastet wurde der auf den Punkt schmierige Karl-Heinz Vosgerau. Neben ihm agieren damals fast schon vergessene Altstars des deutschen, teils gar des internationalen Films wie Elma Karlowa, Adrian Hoven und Ivan Desny. Von der Fassbinder-Familie sind unter anderem Ingrid Caven, Margit Carstensen, El Hedi ben Salem und Ulli Lommel dabei. Barbara Valentin nicht zu vergessen. Durchs Bild laufen auch Walter Sedlmayr, Werner Schroeter und Kommunarde Rainer Langhans. Spät im Film steigt Stiller im Dunkeln zu Eddie Constantine, der mit bewährt französischem Akzent Drohungen nuschelt, in den Fond eines Autos. Und dann ist da als undurchsichtige weibliche Protagonistin Eva die atemberaubend somnambule Mascha Rabben, die im Jahr darauf Bhagwan verfiel und unglücklicherweise auf keiner Leinwand mehr gesehen ward.

Gedreht wurde diese Versöhnung des deutschen Kinos mit sich selbst im Geiste der amerikanischen Science-Fiction zum großen Teil übrigens in Paris. Im Nachtclub Alcazar gibt es eine Wehrmachtsrevue, dazu englisch gesungen „Lili Marleen“. Spätere Fassbinder-Filme werfen auf dieser Bühne als Soldaten-Scherenschnitte ihre Schatten voraus.

Kein anderer als Fassbinder hätte dergleichen Unvereinbares jemals zusammenzubringen gewagt. Und keinem anderen vor allem wäre es dermaßen triumphal dann auch noch gelungen. „Welt am Draht“ ist nämlich ein Film, der auf allen Ebenen funktioniert. Als nicht mal so unsubtile kapitalismuskritische Science-Fiction, aber auch als organisches Glied im Fassbinder-Werkzusammenhang.

Die typische wagemutige Künstlichkeit erzeugt hier eine glaubwürdig unheimliche Welt. In entscheidenden Momenten wird es sehr schön melodramatisch. In ihrer Zurückhaltung mehr als gelungen ist die Restauration. Das deutsche Kino hat einen seiner großen Filme zurück.

EKKEHARD KNÖRER

■ „Welt am Draht“. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Deutschland 1973. Die bei Arthaus veröffentlichte Doppel-DVD mit Extras wie einem Making-of zur Restauration sowie einem sehr sehenswerten Fassbinder-Interview aus dem Jahr 1977 gibt es ab rund 18 Euro im Handel