Hitlers Pläne zur Neuordnung Europas

NS-GESCHICHTE Michael Wildt diskutierte mit dem britischen Historiker und Buchautor Mark Mazower im Berliner Gropiusbau

VON CHRISTIAN SEMLER

Im Herbst 1941 hatte sich Nazi-Deutschland zum Herrn über einen Großteil des europäischen Kontinents gemacht. Aber hatten die Nazis ein konsistentes Programm, wie aus den besetzten, den abhängigen und den verbündeten Staaten der „Achse“ ein stabiles Herrschaftssystem errichtet werden könnte? Dieser Frage ist der britische Historiker Mark Mazower in seinem 2009 im Beck Verlag erschienenen Werk „Hitlers Imperium“ nachgegangen und es war ebendieses Problem, um das es am Dienstag bei einer Präsentation und einer anschließenden Diskussion mit dem Berliner Zeithistoriker Michael Wildt ging.

Nach Mazowers Analyse bewegte sich die Nazi-Außenpolitik bis zur Okkupation der tschechischen Rest-Republik im März 1939 im Rahmen einer erwartbaren Großmachtpolitik: Revision des Versailler Vertrages, Annexion deutsch besiedelter Gebiete, also Österreichs und das Sudetenlandes. Mit der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren sowie der Annexion des überwiegend von Polen bewohnten „Wartegaus“ und „Westpreußens“ nach dem Überfall von September 1939 geriet die Politik der Nazis in einen Selbstwiderspruch. Das Postulat, ein ethnisch „reines“ Großdeutsches Reich errichten zu wollen, war unvereinbar mit einer Annexionspolitik, die slawische Bevölkerungsteile mit einschloss

Die SS-Ideologen um Werner Best

Aber waren, so fragte Michael Wildt den Autor, die Nazis überhaupt willens, ein Imperium zu schaffen, wollten sie eine stabil-repressive Ordnung? Oder war permanente Gewaltanordnung ihr erstes und letztes Wort? In seiner Antwort verwies Mazower auf den fluiden, mit wechselnder Bedeutung versehenen Begriff der „Neuen Ordnung“. 1939, am Vorabend des Krieges, hatte er eine anderer Bedeutung als 1941, nach dem Sieg über Frankreich. Auch die nach der Wende bei Stalingrad verstärkte Europa-Ideologie der Nazis war eigentlich inhaltslos. Mazower versuchte zu zeigen, wie ausschlaggebend der Gang der Kriegsereignisse war, der die nazistische Politik bestimmte. So war der beschleunigte Massenmord an den Juden und die hemmungslose Ausbeutung der besetzten Länder ein Resultat der ökonomischen Krise von 1942. Mit dieser Einordnung des Holocaust zeigten sich Diskutanten aus dem Auditorium nicht einverstanden.

Auf Fragen Wildts und des Publikums eingehend, referierte Mazower, wie Hitler alle Versuche seiner Alliierten zurückwies, sich auf ein Kriegsziel und eine künftige europäische Ordnung festzulegen. Vergeblich war der Vorschlag des japanischen Außenministers, nach dem Vorbild der japanischen Propagandalinie „Asien den Asiaten“ eine entsprechende Politik „Europa den Europäern“ zu initiieren. Vergeblich auch die Analyse Mussolinis, wonach der Krieg nur zu gewinnen sei, wenn die Achsenmächte sich auf gemeinsame politische Prinzipien einigen würden. Alle Formen der indirekten Herrschaft und Kontrolle, die traditionell mit dem Begriff der Hegemonie verbunden waren, wies Hitler zurück. Rücksicht auf die nationalen Aspirationen der von den Deutschen besiegten Völker erschienen ihm nur als Zeichen der Schwäche. Hitler misstraute seinen Alliierten, was sich im Fall Italiens als nur zu berechtigt erweisen sollte. Und bei der jeweiligen Festlegung politischer Schritte waren ihm Juristen und Diplomaten ein Gräuel. Er wollte keine auf Dauer berechneten institutionellen Festlegungen, die eine Selbstbindung der Vertragspartner vorsahen.

Es hätte, so Mazower, aber auch alles anders kommen können. Er verwies auf die unterlegene Politik des Nazi-Ideologen Rosenberg, der als Minister für die besetzten Gebiete die Unabhängigkeit der Ukraine und anderer osteuropäischer Staaten als zukünftige treue Satelliten des Reiches favorisierte. Geradezu fasziniert aber war Mazower von dem Kreis der SS-Ideologen um Werner Best. Die Gruppe von nazistischen Juristen und Verwaltungsbeamten forderte eine imperiale Ordnung für Europa, die sich nicht an der Kolonialpolitik orientierte. In die gleiche Richtung hatte auch der Staatsrechtler Carl Schmitt argumentiert, der 1939 eine Monroe-Doktrin, also ein Interventionsverbot für nicht zu Europa gehörende Mächte forderte und die Errichtung eines europäischen Staatensystems unter deutscher Hegemonie prognostizierte.

Aber was war der politische Stellenwert solcher „alternativer“ Nazi-Intellektueller? Auch Hitler sprach von einer europäischen Monroe-Doktrin, unterließ es aber, deren möglichen Inhalt zu präzisieren. Auch hätte sich Hitler nach dem „Endsieg“ wohl kaum an die territorialen Grenzen einer europäischen Monroe-Doktrin unter Nazi-Führung gehalten.