Der Exorzist im Bärenfell

WIEDERHOLUNGSZWANG Im „Roman unserer Kindheit“ will Georg Klein alle Urschrecken bannen

Der größte Coup ist die Erzählerin, sie ist die Königin der hominiden Freakshow

VON JUTTA PERSON

Blut ist stärker als Sex. Blut ist das Zeichen des Schreckens, der krasser in die Glieder fährt als alles, was eine Kindheit in den Sechzigern sonst noch bieten könnte: erotische Vorahnungen, Fernsehflimmern oder ähnlich wässriger Pipikram. „Es blutet und blutet“, heißt der erste Satz dieser wahnwitzigen, monströs wuchernden, schwarzmagischen und fuchslochartig verzweigten – schlicht und einfach: fantastischen Geschichte, die mit dem hinterhältigen Titel „Roman unserer Kindheit“ daherkommt. Hinterhältig ist das, weil bei einem Autor wie Georg Klein noch die winzigsten Dinge eine abgründige Nebenbedeutung haben. Wer bei „Kindheit“ an kleine, niedliche Menschen denkt und bei „uns“ an eine Generationengeschichte, liegt daneben.

Seit seinen Romanen „Libidissi“ und „Barbar Rosa“ ist Georg Klein, geboren 1953 in Augsburg, auf Abseitigkeit gewissermaßen abonniert. In seinem letzten Buch „Sünde Güte Blitz“ spricht eine Alien-Gruppe über Menschen, als ob eine Lieblingshamsterrasse zu klassifizieren wäre. Auch der „Roman unserer Kindheit“ hat die ganze Spezies im Auge, von der Altsteinzeit bis in die Gegenwart. Weil Kinder Jäger und Sammler sind, geben sie hervorragende Untersuchungsobjekte ab. Sie leben im magischen Rausch von Wundertüten, Sammelbildalben, letzten Schwarzweißfotografien und ersten Bildröhren – womit wir wieder in den Sechzigern wären, in der „neuen Siedlung“ einer süddeutschen Kleinstadt. Die hastig hochgezogenen Wohnblöcke tun so proper, dass klar ist: Hier liegen Leichen im Keller.

Das Anfangsblut tropft aus der Ferse „unseres großen Bruders“, dessen Name auf 447 Seiten nicht verraten wird. Der geniale Geschichtenerzähler und Anführer einer Kinderbande wird durch einen Fahrradunfall für einen Sommer zum Invaliden, aber seine Freunde schieben ihn seit dem Sturz in einem ausrangierten Kinderwagen durch die Gegend. Die hat es in sich: Das Idyll wird von einer Nachtschattenarmee bevölkert, die alle Kriegsschrecken auf einer fies faszinierenden Witzbühne wiederholt. So viel Beinstumpf und Prothese, so viel Stottern und Kriegsblindheit, so viel juckende Narben gab es schon lange nicht mehr in einem Kindheitsroman – so viel Verzerrungs- und Verwandlungskunst auch nicht.

Ein „Mann ohne Gesicht“ trägt ein Mullstück über der weggebrannten Nase, beobachtet die Freunde auf dem Spielplatz und brütet einen dubiosen Plan aus; ein stotternder Wellensittichzüchter warnt die Kinder, dass eins von ihnen bald tot sein könnte. Mit von der Partie sind der „Fehlharmoniker“, ein Kriegsblinder mit Harmonika, „Kommandant Silber“, der mit Panzerfahrerbrille und Invalidenwägelchen herumkreuzt – und ein wildes Tier, das im Tagleben als Plastikspielfigur im Regal steht. Auf der Traumseite wird der Bär zum pelzigen Menschenmonster (und vielleicht zum Kindsmörder). Auch das Sammelalbum entpuppt sich als Bärentöterstory, von der Prähistorie in die Gegenwart gemorpht.

So viel Stottern, so viele juckende Narben gab es schon lange nicht mehr

Der größte Coup gelingt Georg Klein mit seiner Erzählerin, sie ist die Königin der hominiden Freakshow. Ihre maliziöse, bauchrednerische, durch und durch artifizielle Stimme lässt den Roman im unverwechselbaren Kleinsound, tja: erzirpen? lospiepsen? Das Ding, das hier spricht, ist ein Ungeborenes im Bauch einer Siedlungsmutter, die sich noch ein Kind wünscht, möglichst ein Mädchen. Zuerst heißt es: „Mich kann nichts jucken“, aber bald schon: „Ich habe Händchen“. Klein ist ein Falsettkünstler, der den gedrechselten Bösen-Onkel-Ton genauso beherrscht wie das perverse Fistelstimmchen. Noch dazu wiederholt die polymorphe Sprechblase in ihrer Formbarkeit die Menschheitsgeschichte – so, wie auch die Kinder als Speerwerfer durch die Unterwelt wandern. Sie bannen den Schrecken mit magischen Wiederholungen.

Vieles von dem, was Georg Klein in ein atemberaubend psychedelisches Kindheitsmuster verwandelt hat, kann man in Christoph Türckes vor zwei Jahren erschienener „Philosophie des Traums“ nachlesen. Der Schrecken – und nicht etwa die Lust – ist der Urtrieb der Menschheit, und aus dem Wiederholungszwang, der das Schreckliche bannt, entsteht Kultur. Und immer wieder bringen die Kriegskrüppel alle freundlichen Lusterfüllungsträume durcheinander. Der „Roman unserer Kindheit“ lässt die Theorie zur farbstrotzenden Horrorgeschichte mutieren. Georg Klein ist der beste Schreckensimpresario, den man sich dafür wünschen kann.

Georg Klein: „Roman unserer Kindheit“. Rowohlt, Hamburg 2010, 447 Seiten, 22,95 Euro