Das Hauptwerk auf einem Stick

GRUNDLAGENFORSCHUNG Alle für Columbia Records eingespielten Alben von Miles Davis sind nun als Box oder Computerstick mit dickem Buch wiederveröffentlicht. Wirft diese Gigantomanie Mehrwert ab?

Auf CD Nummer 20: Die motivierteste Live-Interpretation der Jazzgeschichte: „Stella by Starlight“ von 1964

VON CHRISTIAN BROECKING

Man hätte sich den Mut und das Können eines Produzenten gewünscht, das Gesamtwerk von Miles Davis auf einer Box zu vereinen. Schließlich war der Jazztrompeter vor seinem Engagement bei Columbia bereits bei Prestige und nachher bei Warner unter Vertrag.

Richtig ist jedoch, für die New Yorker Plattenfirma Columbia nahm Miles Davis sein zwischen 1957 und 1985 veröffentlichtes Hauptwerk auf. Da kein anderes Label im vergangenen Jahrzehnt so geschickt und aufwendig seinen Backkatalog vermarktet hat wie Columbia, reiht sich nun eine Koppelung aller Columbia-Alben, genannt „The Complete Columbia Album Collection“, als weiteres Vermarktungsvehikel in den Davis-Katalog ein. Auch fast 20 Jahre nach seinem Tod verdient Columbia mit dem Oeuvre eines der größten amerikanischen Musikers des 20. Jahrhunderts noch bequem Geld.

Besitzstandsverwaltung

Die große Neuigkeit ist daher nicht die Musik. Verpackung und Marketing sind aufgefrischt, und so repräsentiert das Projekt einmal mehr das obsolete Strukturdenken, das die Wiederveröffentlichungspolitik der Plattenmultis heute beherrscht: Es geht um pure Besitzstandsverwaltung. Anders dagegen die Doppel-CD-Sonderedition zum 50-jährigen Jubiläum von Davis eisgekühltem Meisterwerk „Kind of Blue“ oder die verzinkten „The Cellar Door Sessions 1970“ aus der elektrischen Phase, ebenso „The Complete On The Corner Sessions“ und „Seven Steps: The Complete Columbia Recordings 1963–1964“. Das sind nur einige herausragende Beispiele für die von Columbia/Sony wiederveröffentlichten Miles-Davis-Alben im letzten Jahrzehnt.

Alle diese Ausgaben wurden jeweils von größtem Kritikerlob begleitet und müssen die Konkurrenz mit den aktuellen Jazzveröffentlichungen nicht scheuen. In der auf insgesamt 70 CDs plus einer DVD angelegten „Complete Columbia Album Collection“ sind nun alle Miles-Davis-Alben zwischen „’Round About Midnight“ und „Aura“ in einer Box versammelt. Diese Edition richtet sich nicht an Sammler, die scharf auf neue Liner-Notes und bis dato unbekannte Ausgrabungen aus vergessenen Schallarchiven sind. Bis auf wenige Ausnahmen hat man es hier bei bislang schon veröffentlichtem Material und bei der Reproduktion der Originalcover auf CD-Hüllen-Format belassen, lediglich eine DVD mit Konzertmitschnitten von 1967 und eine CD mit dem gesamten „Isle of Wight“- Konzert von 1970 sind in Aufmachung und Umfang neu.

Der Anlass für diese bislang einmalige Großedition war eine Miles-Davis-Ausstellung, die im Pariser Musée de la musique stattfand. Entsprechend ist das über 250 Seiten starke Hardcover-Buch in der CD-Box mit Kommentaren in englischer und französischer Sprache ausgestattet. Bei einem Gesamtpreis von 165 Euro kostet eine in der Sammlung enthaltene CD gerade mal 2,30 Euro. Das allein würde schon den Erwerb rechtfertigen, besonders wenn man sich die im Vergleich wesentlich teureren Einzeleditionen bisher nicht leisten konnte. Ein 8-GB-Stick müsste bequem reichen, um mit dem Columbia-Gesamtwerk von Miles Davis mobil zu werden.

Wer dann bei Zeiten zur Box-Set-Platte Nummer 20 gelangt, wird mit einer der motiviertesten Live-Interpretationen der Jazzgeschichte belohnt: „Stella by Starlight“ mit dem Miles Davis Quintett im Lincoln Center 1964. Die Eintrittsgelder wurden damals Bürgerrechtsorganisationen gespendet, die sich für die Wählerregistrierung schwarzer US-Amerikaner in Mississippi und Louisiana einsetzten.

■ Miles Davis, „The Complete Columbia Album Collection“ (Columbia/Sony)