In 90 Minuten die Welt berühren

LITERATUR UND ÖFFENTLICHKEIT Eine Stadt im Lesungstaumel: Die lit.Cologne scheint mittlerweile ein Selbstläufer zu sein. Nicht nur wenn Herta Müller und Ai Weiwei kommen, sondern bei fast allen Themen

Alles war bereit für einen Abend der großen Fragen – nur Weiwei und Müller wollten nicht so richtig

Ein wenig Balsam scheint diese Stadt nötig zu haben. Die Veranstaltung war fast zu Ende, das Publikum wurde zunehmend nervös, da sprach der Stadtplaner Albert Speer die erlösenden Worte: „Köln wird auch wieder aus den Schlagzeilen verschwinden.“ Spontaner Beifall brandete auf bei denen, die 90 Minuten einer Diskussion über das „Dickicht der Städte“ gefolgt waren und dabei wohl immer zuerst an ihr eigenes Dickicht denken mussten.

Die Entlastung kommt von außerhalb – seit letztem Wochenende schaut der Literaturbetrieb auf die lit.Cologne, bevor der Blick nach Leipzig weiterwandert. Die Kölner danken es mit Geduld und Bildungsbeflissenheit – selbst wo man es nicht erwartet: an einem Montagabend, wenn ein Funktionär, ein Soziologe und ein Stadtplaner ein Podium besetzen und nicht leicht verdaulich sein wollen.

Das leicht Verdauliche erledigen andere: Ralph Caspers, der WDR-Moderator aus der Typenreihe Obernerd, zum Beispiel. Der proklamierte die „Rechte der Maschinen“ mithilfe einer Materialschlacht. Zitate aus 3.000 Jahren Philosophie und Literatur sollten die These von der tragischen Missachtung von Maschinen durch das „Arbeit-Schweiß-Gesetz“ des Christentums untermauern. Schade nur, dass daneben klein Platz mehr für die Grauzonen war, wo Mensch und Maschine nicht so deutlich auseinanderzuhalten sind.

Überhaupt ist es manchmal ein wenig schade, wenn man dem Publikum so wenig zutraut, wo doch die lit.Cologne mittlerweile ein Selbstläufer zu sein scheint. Fast alle Veranstaltungen sind bis auf den letzten Platz besetzt, und auch in der U-Bahn sind Lesungen ein Thema.

Dabei ist die lit.Cologne die ideale Bühne für Themen, die sonst nur wenig Raum haben. Am Sonntagabend waren es gut 80 Zuhörer, die Susann Pásztor und Benjamin Stein in einer Lesung über die Erinnerung in der dritten Generation nach der Schoah folgen wollten. Pásztor erzählte die Geschichte einer Familie, die nach dem Tod des Großvaters ein Gewirr von Legenden über seine Herkunft entwirren muss. Stein dagegen näherte sich der Geschichte von Binjamin Wilkomirski, dessen falsche Erinnerungen an eine Jugend im Vernichtungslager Musterbeispiel für das Verhältnis von Geschichte und Erinnerung geworden sind.

Im Gespräch entspann sich daraus eine Debatte über die Frage, was „jüdische Identität“ heute bedeutet. Für Stein, einen selbst erklärten orthodoxen Juden, ist diese zuerst durch das Verschwinden der jüdischen Tradition in Deutschland gekennzeichnet. Susann Pásztor wirkte dagegen ein wenig unglücklich mit der Frage und schien bemüht, sich und ihr Werk als Autorin vor Zuschreibungen in Schutz zu nehmen.

Manchmal reichen 90 Minuten Lesung nicht aus, um sich ein Urteil zu bilden. So auch am Donnerstag, als Herta Müller und Ai Weiwei im Schauspielhaus vor einigen hundert kritischen Augenpaaren saßen. Vielleicht war es sogar das Ereignis der Saison: Frisch gebackene Literaturpreisträgerin trifft auf Gesicht der chinesischen Dissidenz. Alles war bereit für einen Abend der großen Fragen nach Folter, innerem Exil und Meinungsfreiheit – nur Weiwei und Müller wollten nicht so richtig. Weiwei knipste seine Gesprächspartnerin und pausierte nur für die Vorführung seiner eigenen Fotos. Auf denen sah man im Hintergrund den Tiananmen-Platz, im Vordergrund seinen ausgestreckten Mittelfinger. „Lineare Perspektive“, erzählt er grinsend, „habe ich von Leonardo gelernt.“

Müller erzählte Geschichten und Anekdoten, fast als wollte sie die Meinungsführerschaft an ihre Zuhörer zurückgeben: Hört mir zu und denkt euch selber was dabei. So war schnell klar, dass auf der Bühne nicht nur zwei Symbole für die Schrecken der Diktatur saßen, sondern zwei Künstler, deren Leben untrennbar mit ihrem Werk verflochten ist. Liao Yiwu hat diese Verflechtung gerade am eigenen Leibe erfahren, er steht in China unter Hausarrest. Über sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ wird trotzdem geredet werden – nicht nur diesen Freitagabend, wenn ihm zu Ehren daraus gelesen wird, sondern vielleicht auch hinterher in der U-Bahn. CHRISTIAN WERTHSCHULTE