Angewandte Alchemie

SKULPTUR Das MARTa Herford zeigt die erste große Einzelausstellung von Martin Walde in Deutschland. Besucher gestalten sein Spiel mit Industriestoffen und Räumen aktiv mit

Beim Messen, Dosieren und Vergleichen von Materialien ist Martin Waldes Einfallsreichtum unübertroffen

VON BRIGITTE WERNEBURG

Knapp drei Stunden fährt man von Berlin nach Herford; von Hamburg sind es zweieinhalb und von Köln zwei. In Herford selbst sind es dann fünf Minuten, bis man vor dem MARTa Herford steht. Am Entree hängt Seidenpapier. Man sieht, dass Stücke davon abgerissen, gekaut und gegen die Eingangstür gespuckt wurden, auf deren Glas die Papierklümpchen kleben blieben. Ein Pennälerscherz. Und ein Kunstwerk von Martin Walde. „Window Spitting“, eine kollektiv erstellte Skulptur, die einen überraschenden Rundgang durch seine große Einzelausstellung „Unken“ verspricht.

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Martin Walde, 1957 in Innsbruck geboren, erfuhr mit seiner Teilnahme 1997 an Catherine Davids documenta 10 internationale Beachtung. Trotzdem kennt ihn kaum jemand in Deutschland. Das sollte sich ändern, denn im MARTa Herford steht für die neuerliche Entdeckung Martin Waldes alles bereit.

Zum Beispiel „Battle Angel“, eine Art Bambuswald, dessen Durchlässigkeit die Besucher selbst bestimmen können, indem sie die stählernen Maßbänder, die Walde an ihren beiden Enden mit Kabelbinder zusammengebunden und versteift hat, an ihrem „Stamm“ packen und verrücken. Denn mit ihren Schlaufen, die durch das Zusammenbringen der Enden entstehen, drücken die Maßbänder gegen die Decke und finden dabei beweglichen Halt.

Martin Walde ist der Erfinder im Bereich des Readymade; er steht an der vordersten Front der skulpturalen Materialforschung. Neben Industriestoffen wie Styropor, Silikon oder Stearin ist ein weiteres spezifisches Material seiner Skulpturen das Verhalten der Stoffe, Dinge und der Menschen im Raum. „Eden Springs“ schmiegt sich als mächtige Styroporwand den Frank-Gehry-Bau hoch. Ein Wasserspender namens „Eden“ gibt der Arbeit ihren Namen – und den Besuchern die kleinen Plastikbecher, in die das Styropor gefüllt wird, das sie aus der Wand herauskratzen. Wenn der Becher voll ist, passt er keineswegs in die Aushöhlung der Wand. Die ist für ihn erst bei zwei vollen Bechern groß genug. Die meisten Besucher wollen sich allerdings in der Wand verewigen und kratzen ihre Namen und seltsame Gesichter in den dichtgepackten Hartschaum.

Anderswo ziehen sie dann eher mit dem Künstler mit, ihre Sinneswahrnehmung dafür zu schärfen, was eine Skulptur ausmacht. Weshalb also eine simple Papiertüte in dem Moment zur Skulptur wird, in dem ein Pappbackstein in sie hineingeschoben und wieder herausgezogen wird und sie dadurch eine luftige, rechteckige Form erhält: „Bag-Turn-Brick“, 2007. Es geht Martin Walde nicht um ein „Alles ist erlaubt“, obwohl seine Installationen unbedingt auf eine gezielte Unterwanderung des Autoritätsverhältnisses zwischen Besuchern, Kunstobjekt und Kunstraum aus sind.

Mit seinem Werk markiert Martin Walde das Museum vielmehr als einen sozialen Ort, der stark von konventionellen Erwartungshaltungen und expliziten Verhaltensanweisungen bestimmt ist – weil er sämtliche dieser Regeln durchbricht. Mit „Ball-Turn-Bag“ fordert er die Besucher auf, aus einem Basketball eine Tasche oder ein „Reservoir“, wie er sagt, herzustellen. Dazu gilt es zwei Segmente aus dem Basketball herauszuschneiden, wodurch der Ball zusammengeschoben und übereinandergeklappt werden kann. Er schaut dann aus wie ein Rugbyball, in den sich tatsächlich Dinge verstauen lassen, hat man das Ventil zum Aufpumpen als Verschluss drangelassen. Die selbstgefertigte „Ball-Turn-Bag“ kann dann käuflich erworben werden. Damit unterminiert der Künstler das ungeschriebene Gesetz, dass der Tausch von Geld in Kunst im eigentlichen Ausstellungsraum nichts zu suchen hat. Sofern nicht verkauft, werden die fertigen Exemplare von „Ball-Turn-Bag“ dann mit ihren Umhängegurten aneinander- und unter die Decke gehängt, von der sie wie ein bunter Wasserfall in Saal herabzustürzen scheinen. Die großartige Skulptur wächst im Laufe der Ausstellung immer mehr an.

Die offene, lebendige, wachsende Ausstellungsskulptur, die „Unken“ als Ganzes darstellt, ist besonders für das Museum und sein Personal eine große Herausforderung. Bei „Crazy Jane“ etwa sollen die Besucher sogar kokeln. Vorbild war eine junge Frau, die Martin Walde in London beobachtete, wie sie auf einer Treppe saß und Papierservietten auseinandernahm, um aus ihnen kleine Luftsäckchen zu formen, indem sie die Lagen an den Ecken zusammendrehte und den kleinen Docht, der so entstand, anbrannte und verfestigte. Jetzt dürfen wir alle spielen, und es ist erstaunlich, welch vielfältige Gebilde sich neben den Servietten auf dem Tisch aufbauschen.

Neben Alltagsbeobachtungen sind Märchen eine andere Quelle des Tiroler Künstlers, und so dürfen die Besucher „Sleeping Beauty“, also Dornröschen, aus dem Schlaf klingeln, mit dem Handy, das in einem raumfüllenden Gespinst aus Aluminiumdraht hängt; und sie dürfen Gold spinnen – verstreute Goldmarker neben einem riesigen Heuhaufen versprechen viel Mühe, freilich auch neues Wissen in angewandter Alchemie.

Neues Wissen ist das Stichwort für Martin Waldes Werk. Vor allem seine Experimente mit Farben, Gerüchen und Konsistenzen wie den zwischen fest und flüssig angesiedelten Gels, von denen man nicht so recht weiß, ob man sie nun eklig oder faszinierend findet, sprechen von Waldes Willen zum Wissen. Modernes Wissen ist vergleichendes Wissen, quantifizierbares, „objektives“ Wissen, vor allem ist es aber neues Wissen. Es entsteht nun besonders dort, wo Dinge und Stoffe ganz unerwarteten Prozeduren des Messens, Dosierens und Vergleichens unterworfen werden. Hier ist Martin Waldes Einfallsreichtum unübertroffen, in seinem Willen zum ästhetischen Wissen.

■ Martin Walde: „Unken“. Bis 18. April, MARTa Herford, Herford, Katalog 32 €