Auf den Spuren von Nelly Sachs: Die Welt in der Küchennische

Eine Frau, über die man erschreckend wenig weiß: das Jüdische Museum in Berlin ist auf den Spuren der Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs.

Nelly Sachs, 1966. Bild: ap

Am Anfang redet einer über einen Expander, diese Erfindung des Vaters von Nelly Sachs, die den Menschen und vor allem den Männern zu einer stattlichen Erscheinung verhelfen sollte. Aris Fioretos, der Kurator der Ausstellung "Flucht und Verwandlung - Die Schriftstellerin Nelly Sachs" und bis vor einigen Jahren auch schwedischer Kulturbotschafter in Berlin, erinnert an das Brusthaar, das sich so gerne im Expander verklemmt. Und Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums in Berlin, spricht über die Briefmarke mit dem Konterfei der Dichterin. Gegenwert ein Euro dreiundfünfzig. Was, so in etwa, der Körpergröße der jungen Nelly Sachs entsprochen haben könnte.

Später, gebeugt von der eigenen wie der kollektiven Geschichte, war die Lyrikerin, die Jüdin, war die Exilantin Nelly Sachs gerade noch 1,48 Meter klein. Da hatte man ihr gerade am neue Lebensort Stockholm den Literaturnobelpreis verliehen.

Die Annäherung an eine Ausstellung, ja mehr noch an die Ausgestellte selbst nahm bei der Eröffnung also den Umweg über die Pointe. Ein vielleicht sogar ein wenig hilfloses Zugeständnis an diese, zugegeben, Künstlerin des Verschwindens. Aber andererseits: Wer Aris Fioretos' Geschichte vom haareziependen Expander hörte, wusste immerhin, wie sehr die Arbeit an "Flucht und Verwandlung - Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm" auch eine archäologische war. Denn in den fünf zunächst einmal chronologisch sortierten Ausstellungsinseln begegnet man vor allem einer Frau, über die wir erschreckend, ja geradezu schrecklich wenig wissen.

Und vielleicht hat Nelly Sachs ja genau darauf gehofft, wenn sie davon sprach, "gänzlich hinter ihrem Werk zu verschwinden". Heute, so Fioretos, müsse es im Gegenteil darum gehen, "wieder an dieses Werk zu erinnern".

Am Anfang war also der Expander. Waren Kindheit und Jugend der 1891 geborenen Nelly Sachs in einer Villa am Tiergarten. Der Vater war ein Erfinder und Unternehmer, der mit Fahrradreifen und Regenmänteln zu einem gewissen Vermögen gekommen war. Die Mutter, kränkelnd und seit dem Tod des Mannes (1930) zunehmend abhängig von der Tochter, teilt mit ihr später im schwedischen Exil die karge Einzimmerwohnung. "An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt."

Ein Hocker, ein Holztisch, die schwere mechanische Schreibmaschine - eine vier Quadratmeter knappe Küchennische mit Blick auf den Stockholmer Industriehafen wurde dort zur Welt, in der Nelly Sachs Nacht für Nacht zu schreiben begann. Im Dunkeln zumeist, um die Mutter nicht zu wecken. "Habe nie einen Schreibtisch bis zu diesem Augenblick besessen - meine Manuskripte liegen im Küchenschrank." Die Ausstellung imitiert diesen Ort.

Und immer wieder gelingt es "Flucht und Vertreibung" auch, gerade in einer Poesie der Dinge nach der Lyrik von Nelly Sachs zu spüren. Ihr papiergebundenes Wörterbuch "Schwedisch in 30 Tagen" wird zu einer Chiffre für jene Differenz, ein intellektuelles, wortgewandtes Leben in einen anderen Sprachraum übersiedeln zu müssen. Die Holzfigur des kleinen Nils Holgersson, die listig über der Ausstellung schwebt, verweist auf die frühe Freundschaft zu Selma Lagerlöf, die 1921 eine ebenfalls in der Schau gezeigte Postkarte an die "Schriftstellerin" Nelly Sachs adressiert. Sachs hatte Lagerlöf eine Ausgabe ihrer im gleichen Jahre erschienenen "Legenden und Erzählungen" geschickt.

Dann stehen dort die beiden Koffer, dieses ewige Symbol von Flucht und Vertreibung. Immerhin aber sind es wirklich die Koffer von Tochter und Mutter Sachs, aufgehoben in der Einzimmerwohnung am Stockholmer Bergsundsstrand. Nelly Sachs war keine, die flüchtig zu ihren Dingen war. Vermutlich ist sie nie flüchtig zu irgendetwas gewesen.

Ein Trauma, ein Zuviel der Empfindungen, hatte die 17-jährige Nelly Sachs, die doch eigentlich Tänzerin werden wollte, auch zur Literatur geführt: die nicht (oder vielleicht doch?) erwiderte Liebe zu einem Mann (oder einer Frau?). Sachs selbst hat dessen Identität zeitlebens als Geheimnis bewahrt. Im Jahr 1908 aber konnte sie weder essen noch sprechen. Und es war der Psychoanalytiker Richard Cassirer, der sie während eines Klinikaufenthalts zum Schreiben bringt.

Wenig wert sind ihr später diese frühen Werke. Zur Literatin sei sie erst in Schweden, sei sie erst nach Auschwitz geworden. Sie wird die Erste sein, die die Schornsteine von Auschwitz zu Versen macht. Nelly Sachs stirbt am 12. Mai 1970, so zufällig wie zwangsläufig am Tag der Beerdigung ihres engsten Verbündeten Paul Celan. Beide hatten Adornos Worte von der Barbarei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, nur zu richtig verstanden.

"Flucht und Verwandlung - Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm", bis 27. Juni im Jüdischen Museum in Berlin Zur Ausstellung ist eine umfangreiche Bildbiografie (Suhrkamp, 29,90 €) erschienen Ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschien in diesem Jahr eine kommentierte Nelly-Sachs-Gesamtausgabe

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