Seitenblicke auf einen Exzentriker: Leben zwischen den Stühlen

Gespräche mit Krähen, Leben zwischen Eiben: In Berlin-Dahlem lebt der Exzentriker Juergen Jonas. Im Freien zwischen Villen, ohne Konto. Unsere Autorin hat ihn dort besucht.

In Berlin Dahlem, Leben zwischen Eiben: Juergen Jonas. Bild: Elisabeth Kmölniger

Abwärts senkt der Weg sich, von düsteren Eiben gesäumet, führt er durch Schweigen stumm zu den unterirdischen Sitzen. Ovid

Dahlem ist ein ruhiges und gediegenes Villenviertel im Südwesten Berlins. 1910 entstanden, ist es heute mit seinen Museen, Archiven, Forschungsinstituten und der Freien Universität eine immer noch beschaulich wirkende Mischung aus Villen- und Wissenschaftskolonie. Mitten in dieser gutbürgerlichen Umgebung, direkt an der Königin-Luise-Straße, hat sich ein Mann niedergelassen. Aber nicht in einer Villa oder einer Wohnung, sondern draußen im Freien. Er lebt unter einem alten blauen Sonnenschirm, zwischen zwei übermannshohen weiblichen Eiben, in einer winzigen öffentlichen Grünanlage. In Indien wäre er ein heiliger Mann, ein Sadhu. Hier ist er nur ein "Schandfleck".

Auf den ersten Blick kaum zu sehen, sitzt er meist im Schneidersitz auf dem blanken Boden, raucht, werkelt oder liest. Er nimmt weit weniger Platz ein als die Parkfläche eines Pkws.

Vis-à-vis befindet sich die katholische St.Bernhard-Kirche aus den 30er-Jahren, mit wuchtigem Backsteinturm, grünem Kupferdach und lauten, scheppernden Glocken. Daneben liegt ein leer stehendes pompöses Postgebäude, das vor Kurzem, nach 92 Jahren Dienst am Bürger, kommentarlos seine Pforten schloss. Ein paar Schritte entfernt residiert eine Botschaft. Direkt in Sichtweite neben der Grünanlage steht der umfangreiche gläserne Kubus des Campus Hotels. Das First-Class-Hotel ist unlängst erst auf einem verwilderten Grundstück aus dem Boden gewachsen und hat nichts mit der Uni zu tun. Es bedient lediglich den Kon-gress-, Seminar- und Tagungsmarkt in Berlin. Im Internet präsentiert sich die Hotelkette mit dem Motto: "Es sind die Begegnungen mit den Menschen, die das Leben lebenswert machen."

An einem kühlen Samstagmorgen im April 2010 beschließe ich, den obdachlosen Mann aufzusuchen und ihn zu fragen, weshalb er im Gebüsch lebt. Ich trete so diskret wie möglich näher. Er sitzt auf dem Boden und liest. Mich für die Störung entschuldigend, stelle ich mich vor und formuliere kurz mein Anliegen. Unwirsch blickt er mich mit klaren blauen Augen an und sagt höflich auf Hochdeutsch: "Gespräche interessieren mich nicht, ich interessiere mich nicht für Obdachlose - und auch nicht für Leute mit Obdach."

Ratlos biete ich ihm etwas Geld für ein Gespräch. Er mustert mich und sagt höhnisch: "Geld interessiert mich auch nicht!" Dieser Satz bringt mich zum Lachen und begeistert mich so, dass sich daraus eine Unterhaltung ergibt. Es dauert eine Weile, bis er dann doch seufzend zustimmt.

Angesichts des beginnenden Nieselregens bitte ich ihn zum Gespräch in unseren Bus, der direkt neben seinem Platz parkt. Ein großer Rottweiler hinter dem Zaun des Eckgrundstücks bellt halbherzig, als wir einsteigen. "Artos ist ein Hund, den ich schon seit vielen Jahren kenne, im Guten wie im Bösen", sagt unser Gast, "er bellt immer. Aus Pflichtbewusstsein. Er ist nachts im Haus, aber wenn irgendwas ist, bellt er laut und beschützt mich so eigentlich mit."

Elisabeth holt vom Chinesen etwas Essen nebst Getränken, und damit setzen wir uns nieder. Das schützende Dach unseres Autos erscheint mir so angenehm wie nie zuvor. "Sie können mich Juergen Jonas nennen, Jonas, der im Bauch des Walfisches sitzt." Er lacht etwas befangen, die unteren Vorderzähne fehlen. Vorsichtig streckt er ein Bein aus: "Probleme mit dem Knie. Bin im Winter hingestürzt, bei diesem Glatteis, das wir hatten." Er reibt es flüchtig und blickt versonnen auf seine zwei verschiedenen Turnschuhe nieder. "Da sollte ich mal einen passenden finden, jeweils. Aber so geht es ja auch." Er schweigt ein Weilchen. Ganz allmählich gewöhne ich mich an seinen starken Geruch, an seine verschmutzte Kleidung und an die alte Strickmütze, die er weit in die Stirn gezogen hat. Er deutet in die Runde und sagt: "Ich habe keinen Motor. Für nichts!" Und schweigt ein Weilchen.

"Ich würde gerne mit den Händen essen, wenn Sie nichts dagegen haben? Danke, ich habe mir das so angewöhnt, Besteck wird ja nur schmutzig." Er isst sehr zierlich mit seinen schmutzigen Fingern und entschuldigt sich jedes Mal, wenn ihm etwas auf den Anorak fällt oder sich in den Bartstoppeln verfängt. Für die Cola hingegen erbittet er einen Becher, er trinkt nicht aus der Flasche. So grotesk es klingen mag, aber die Atmosphäre ist sehr kultiviert. Er sagt ruhig: "Das mache ich jetzt schon fast den 10. Winter. Bei minus 22 Grad. Hier in dieser Gegend, um die FU herum, vorn an der Kirche oder anderswo. Ich habe meine drei Schlafsäcke, den arktischen, den grünen englischen und einen anderen englischen, bei dem ist aber der Reißverschluss kaputt. Erfrierungen hatte ich eigentlich keine, bis auf die Stelle seitlich am Fuß, die ganz schwarz war. Inzwischen ist sie wieder hell, und es ist auch wieder Gefühl drin. Aber ich will nicht klagen, es sind weltweit so viele Menschen obdachlos, unfreiwillig, die sitzen da, ohne Zelt, haben nicht mal ein Radio. Nicht mal einen Schlafsack, keine Habseligkeiten, nichts!

1993 z. B. habe ich noch gearbeitet. Im Hotel Interrast in Hamburg auf der Reeperbahn, das war so ein Flüchtlingshotel, eine Massenunterkunft für etwa 800 Asylanten, mit eigenem Sozialamt und Kindergarten. Also, man wird nicht von jetzt auf gleich obdachlos. Step by step. So geht das! Und es ist dann die Frage: Kannst du das, willst du das? Wie lange wirst du durchhalten, oder musst du gar nicht durchhalten? Hast du Talent dazu? Es ist ja nicht nur eine Frage der Hygiene und der Unbequemlichkeit, es ist auch ein richtiger Kampf. Das Überleben draußen im Freien ist eine Kunst, die man erst mal hart erlernen muss. Es ist lebenswichtig, wo man seine Plätze sucht. Was und wie viel man trinkt. Ich bin kein Alkoholiker, trinke aber gern österreichischen Weißwein. Man muss wissen, wo man sein ,Bedürfnis', seine ,Notdurft' verrichtet", er lacht, "wo man Essen findet, was man anzieht, wie man sich bei Frost, Schnee, Regen und Sturm schützt, oder vor Überfällen.

Ich will hier aber nicht als Obdachloser bezeichnet werden. Die Sprache ist ja in vielen Dingen nicht mehr identisch zum Leben, deshalb muss man aufpassen. Und zudem habe ich als Obdachloser schlechte Erfahrungen gemacht, mit Kirchen und Behörden, mit ihren sogenannten Hilfsangeboten. Das interessiert mich nicht. Also ich bin nicht obdachlos, ich bin Nichtsesshaft, ohne festen Wohnsitz. Und ich bin auch nicht arm, ich bin mittellos …, bin sie los, die Mittel!" Er lacht sehr über diesen zugeflogenen Wortwitz. "Und wie gesagt, Geld interessiert mich überhaupt nicht. Kein Geld, keine Geldsorgen. Geld ist was, womit der meiste Unsinn überhaupt getrieben wird. Arbeit interessiert mich auch nicht. Ich biete keine Leistungen und nehme auch keine in Anspruch. Möbel interessieren mich nicht - ich lebe hier gut zwischen den Stühlen", er lacht sehr. "Politik, also Parteipolitik, Religion, Gesellschaft, Konsum, das alles interessiert mich nicht mehr. Ich weiß nicht, ob man das radikal nennen kann, konsequent, ja. Ich habe meine Konsequenzen gezogen.

Ja richtig, ganz ohne Geld kann nicht mal ich leben. Ein bisschen davon brauche ich, um Blättchen und Tabak zu kaufen und auch mal einen Wein. Aber ich bettle grundsätzlich nicht. Fremde Menschen schenken mir was, gar nicht mal so selten. Aber für mich ist das Geld an sich nichts wert. Wenn ich welches bekomme, gebe ich es gleich wieder aus. Alles andere ist da oder nicht. Drüben im Backshop geben sie mir schon mal heißes Wasser in meine Thermoskanne, für einen Kaffee. Im Sommer ist weiter hinten ein Wasserhahn mit sauberem Trinkwasser, und es gibt bis zum späten Herbst überall in der Umgebung Obstbäume, die Leute heben es nicht mal auf. Nussbäume gibt es, Brombeeren und wilde Trauben. Nur einmal am Tag brauche ich was zum Essen. Das ist eigentlich selten ein Problem. Ich esse Brot, das man nicht mehr haben will. Vom Chinesen bekomme ich ab und zu Reis geschenkt, oder ich besorge mir was, aus der Ökotonne am Supermarkt vorne. Ich esse die abgelaufenen Sachen, und mir ist längst nicht jedes Mal schlecht geworden danach."

Er fragt, ob er eine Zigarette rauchen darf, wischt die Hände ab und dreht sich mit Tabak aus einem mageren Päckchen eine dünne Zigarette. Ich öffne das Fenster. Er inhaliert und sagt: "Ich bin jetzt über fünfzig. 1958 geboren. In Mannheim. Da war das Schlimmste schon vorbei, da waren die Nazis schon wieder alle in Amt und Würden." Er lacht. "Ich bin bei Adoptiveltern aufgewachsen. Früher war ich mal in der Kirche, bin aber 86 ausgetreten. Ich habe an fast alles mal geglaubt. Habe mich auch politisch engagiert, und das war genau so ein Reinfall. War auch mal kriminell, habe Autos geklaut usw., war im Gefängnis 1989, das will ich gar nicht unterschlagen. Ich habe die ganze Palette durchprobiert, eigentlich. Ging ins Staatliche Aufbaugymnasium Alzey, das ist bei Worms. Habe die Schule dann aber abgebrochen. Andere Dinge waren interessanter damals. Später habe ich Interesse an der sogenannten Sozialarbeit bekommen und in Karlsruhe angefangen mit einem Praktikum, bei einem Zigeunerprojekt vom Stadtjugendausschuss. Das war 79/80. Nebenher habe ich in einer Musikkneipe gejobbt und mich sogar hochgearbeitet, bis zum stellvertretenden Geschäftsführer." Er lacht.

"Abgeschlossen habe ich meine Ausbildung dann in Paderborn, am Edith-von-Stein-Kolleg, bei den Karmeliterinnen - sie war ja Karmeliterin, die Edith von Stein, eine konvertierte Jüdin. Philosophin war sie davor, war sogar bei Husserl Assistentin. Das ist kaum bekannt. Und 1942 ist sie in Auschwitz vergast worden. 1983 jedenfalls habe ich die Prüfung abgelegt zum staatlich anerkannten Erzieher. Ich war vorübergehend bei den Grünen in Paderborn, sie haben mich sogar auf die Bundesdelegiertenversammlung geschickt nach Karlsruhe, wo sie sich ja auch gegründet hatten, 1980. Jeder hat da Karriere gemacht. Dazu muss man nichts weiter sagen." Er lacht. "Und ich habe in verschiedenen Jobs gearbeitet, auch mal beim Drogeriemarkt Schlecker in Alzey. Die haben ja bis heute üble Arbeitsbedingungen. Da haben sie mich zweimal entlassen, weil ich einen der ersten Betriebsräte gegründet hatte. Sie mussten mich aber wieder einstellen, aufgrund eines Urteils vom Arbeitsgericht. Ich war ein rotes Tuch. Dann habe ich aber doch lieber die Abfindung genommen. Und zusammen mit dem Geld, das ich anschließend als Bademeistergehilfe verdient habe - ich hatte ja den DLRG-Schein gemacht -, bekam ich dann genug zusammen, um meine ersten beiden großen Europareisen zu machen. Zwei Interrail-Reisen, mit Rucksack, Schlafsack und allem. Die erste in die nordischen Länder bis hoch nach Lappland, dort lag Schnee. Die zweite war dann die westlich-südliche Tour, bis zu den Kykladen/Peloponnes. Und dann waren auch schon die schönen Monate vorbei. Ich war aber zwischenzeitlich immer wieder weg, noch mal in Griechenland, dann mal in Dänemark, Schweden oder auch viel in England. Alles immer mit dem Zug. Ich bin noch nie in meinem Leben mit dem Flugzeug geflogen. Möchte ich auch nicht. Momentan, durch den Vulkanausbruch in Island, ist ja keinerlei Flugverkehr mehr. Ich schaue gern abends in den Himmel, und da ist nichts, was da nicht hingehört.

Ich habe mich früher, ohne jetzt was durcheinanderwirbeln zu wollen, viel mit Verschiedenem beschäftigt, auch mit dem Holocaust. Habe in den 70er-Jahren von Gerhard Schoenberger diese Dokumentation gelesen: ,Der gelbe Stern'. Auch Bücher von Alois Prinz, das ist ein Altersgenosse von mir, kennen Sie den? Schade! Oder von Klaus Wagenbach, der viel geschrieben hat über Kafka.

Den kennen Sie ja. Mit Marx und Engels und dem Kapital habe ich mich auch befasst, kann mich noch an ein Buch erinnern von Iring Fetscher darüber. Und mit dem Anarchismus habe ich mich natürlich auseinandergesetzt. Habe auch viel englische Literatur gelesen, ich kann gut Englisch. Und ich habe mich auch etwas mit Religionen beschäftigt, mit Judentum, Christentum, Islam. Dann auch mit Buddhismus vor allen Dingen. Die Hauptfrage ist doch immer nur: Wie kannst du leben, ohne über Leichen zu gehen?

Ich frage: "Und wie kam es dann zum Absturz?" Er schaut mich entgeistert an. "Absturz? Welcher Absturz? Das ist mein Aufstieg!" Wir lachen sehr, er am heftigsten. "Ich habe doch etwas erreicht. Ich bin in keinem System mehr drin, auch nicht im Geldsystem. Konto habe ich seit Jahren keins. Ich habe überall gar nichts mehr. Es sind schon viele Jahre, dass ich gar nichts mehr in Anspruch nehme, von Deutschland nicht und nicht von Great Britain, wo ich mehrere Jahre, mit Unterbrechungen gelebt habe. Ich habe mich entzogen. Habe auch keine Papiere mehr, nur meinen Ersatzausweis von der Botschaft in London, aber der ist auch schon ein bisschen drüber. Ein biometrischer Pass für 59 Euro ist jetzt in Deutschland vorgeschrieben, habe ich gehört. Das ist doch eine Frechheit, Fingerabdrücke sollen demnächst auch noch rein. Diese legalisierte Verbrecherbande von Politikern erklärt einfach unbescholtene Bürger zu potenziellen Kriminellen, die im Voraus erkennungsdienstlich behandelt werden müssen. Da muss sich doch jeder verweigern!

Ich mache nicht mit! Ich bin ohne alles. Ich besitze kaum noch was, außer ein paar für mich wertvolle Erinnerungsstücke. Und mein kleines englisches Radio, das ist mir sehr wichtig. Ein Buch von Klaus Wagenbach, eine Schlafsackhülle und ein englisches Amulettchen mit blauen Teilen, haben sie mir gestohlen im letzten Sommer. Das vergesse ich nicht so schnell! Und, leider, mein Fahrrad macht mir große Sorgen. Der Hinterreifen ist kaputt, auch die Speichen und die Gangschaltung. Es gehörte mal früher einer Freundin, und aus Anhänglichkeit habe ich es noch behalten, aber fahren kann ich damit nicht mehr. Ich vermisse das Fahrradfahren sehr. Also das ist das, was ich unbedingt brauche, ein funktionstüchtiges, stabiles Fahrrad. Aber sonst? Gut, ich hätte gern auch wieder einen Ball, meinen alten hat die BSR einfach mitgenommen.

Die Stadtreinigung lauert

Bei denen muss ich übrigens unheimlich aufpassen, die lauern nur darauf, dass ich mal nicht an meinem Platz bin, und schon fahren sie meine Sachen hier ab. Ich muss buchstäblich auf meinem bisschen Besitz sitzen bleiben. Sobald ich weggehe, ist er herrenlos. Für die ist das Müll. Ich bin auch Müll. Heute morgen sagte einer von diesen Orangefarbenen: ,Mach doch endlich deinen Abgang!' Das kann ich nicht verstehen. Die haben ihre Arbeit, ihr Geld und alles und nehmen sich dann noch das Unrecht heraus, mir mein Recht auf Leben abzusprechen?! Aufpassen muss ich auch auf Ordnungsamt und Polizei. Die haben mich schon öfter verscheucht.* Ich habe hier schon über 20 Plätze ausprobiert. Von drüben, vom Insektenzentrum, wo sie tausende von Insekten umbringen bei Tierversuchen - für mich sind Insekten auch vollwertige Lebewesen -, da haben sie mich vertrieben. Und auch vom Friedhof, wo ich mich sehr sicher und wohlgefühlt habe, denn nachts wird das Tor zugesperrt.

Der St.-Annen-Kirchhof und Friedhof Dahlem, das ist ja praktisch ein gemeinsamer Friedhof. Winter und Sommer war ich dort, über Jahre. Da wurden zwar im Winter die WCs geschlossen von den guten Christen - im Sommer sind sie offen -, man muss aber zeitig aufstehen, denn frühmorgens kommen schon die Totengräber. Ich habe da immer wunderbar geschlafen, neben den Gräbern von hervorragenden Leuten." Er lacht herzlich. "Dort liegt auch Rudi Dutschke, auf der Nordseite der Kirche. Er hat sogar ein Ehrengrab, es kommen oft Leute. Einmal kamen welche von Sat1, die das Grab suchten, sie wollten eine Reportage machen. Ich habe sie hin geführt und auch einiges erzählt. Manchmal habe ich auch Touristen Auskunft gegeben. Wie so eine Art Friedhofsführer." Er lacht. "Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Auf der Südseite der Kirche liegt der Theologe Helmut Gollwitzer, der Sozialist war und ein Freund von Dutschke und Ulrike Meinhof. Auf seinem Grab vertrocknet alles schneller. Ossip K. Flechtheim liegt dort, er war Politologe an der FU, und auch die Philosophin Margherita von Brentano. Der RAF-Anwalt Claus Croissant ist da auch begraben und sehr viele Künstler, besonders Bildhauer. Einer, Waldemar Grzimek, hat sogar einen großen Frauenakt in Bronze als Grabmal. Ja, ich war sehr gern auf diesem Friedhof.

Kann ich noch eine rauchen? Danke. Hier an der Ecke habe ich abends zwar eine eigene Peitschenlampe zum Lesen, dafür ist es aber sehr laut, vom Autoverkehr her, und im Sommer ist das Nachtleben hier wie in Brighton. Im Biergarten der Luise spielen Blaskapellen, die Leute gehen herum. Ich habe ja eine ganz andere Perspektive und Wahrnehmung als irgend so ein Autofahrer oder Fußgänger, wenn ich dort unten auf dem Boden sitze. Morgens und abends kommen die Studenten vorbei, die höre ich kaum. Was ich absolut hasse, sind diese Geräuschattacken mit Schuhen, solche Schlurfattacken. Oder auch dieses Geklacker von den hohen Schuhen. Die Jogger, schnaufen oft oder keuchen schrecklich, und die mit den Skistöcken, die schaben so laut auf dem Boden, dass man sie noch hört, wenn sie schon vorbei sind. Oder dieses sehr hässliche Geräusch, das oft ältere Männer von sich geben, dieses Hu-tchä, wenn sie sich räuspern.

Nein, Hunde sind überhaupt kein Problem, die benehmen sich mir gegenüber sehr diskret. Pinkeln hier nicht hin. Das Problem sind Menschen. Die Ecke ist teilweise sicher und teilweise nicht. Ich bin ja mehrfach überfallen worden, auch nachts schon, im Schlafsack. Der letzte Überfall war 2007 in der Spanischen Allee, es war Januar und schon dunkel. Ich saß mit Ohrhörern auf meinem Rucksack, habe Musik gehört, und da kamen zwei Typen. Einer hatte eine interessante Brille auf. Dann hat mich plötzlich ohne Ankündigung ein großer Stein am Kopf getroffen. Und weg waren sie. Es hat stark geblutet, und ich habe mich zu einem italienischen Lokal dort geschleppt. Der Besitzer hat sofort Polizei und Krankenwagen gerufen, mir sogar einen großen Eisbeutel aufgelegt. Ich musste ins Krankenhaus, in den OP, genäht werden und alles. Ich hatte noch Glück, sagten die Ärzte. Seitdem trage ich keine Kopfhörer mehr und deshalb habe ich ständig meine irische Wollmütze auf, weil die Stelle immer noch nicht ganz gut ist.

Gespräche mit Krähen

Auch wenn es so aussieht, Einzelgänger bin ich nun auch nicht. Ich bin ja hier draußen nicht alleine. Habe Freunde.

Meine größten Freunde sind Tiere, solche, die nicht unbedingt verkauft oder gekauft sind. Neben mir schläft jede Nacht ein schwarzer Vogel. Ein Amselmännchen, das auch Futter bekommt, wenn ich was habe. Und jetzt finden sie ja auch wieder diese Würmchen und Insekten. Krähen, Raben sind auch nicht ohne! Abends suchen sie ihre Schlafplätze. Einmal waren bestimmt 350 hier. Eine saß immer an der Kirche, so eine Schauspielerkrähe. Machte Faxen. Sehr lustig. Die können ja nicht nur ihr Kraah-kraah, die können noch ganz anders, ganz leise, oder fast wie Sprechen, so ein Glucksen. Die eine Krähe ist mir sehr befreundet, sie rief die anderen richtig, wenn ich im Winter für sie Fleisch und Käse hatte aus der Tonne. Und es gibt auch eine einzelne, wilde, freie Katze hier draußen, mit schwarzem Fell. Die ist überall zu Hause, lebt für sich allein und schlägt sich durch mit Mäusen. Die gibt es hier viel.

Und dann gibt es hier auch noch Alphons. Der hat mir im letzten Winter, als es so brutal kalt wurde, da mein Zelt, diesen großen Gartenschirm, geschenkt. Er wohnt gleich hier um die Ecke, hat ein Privathaus mit Garten und auch was zu sagen in dieser Gegend. Öfters im Winter ist er mal morgens und auch spätabends gekommen, mit einer Thermoskanne voll Kaffee und englischem Eiertoast. Er hat mich auch versorgt mit seinem griechischen Landhund Lotti. Alphons ist sehr nett. Aber es gibt hier auch böse, übelwollende Leute, die mich lieber heute als morgen weghaben möchten. Auch die vom Seminarhotel, die ihre Gästen in gläsernen Aufzügen rauf- und und runterfahren. Die wollen denen so einen Ausblick nicht zumuten. Und auch die Kirche drüben hat mich am heiligen Ostersonntag von ihrer Tür verwiesen! Ich habe vor dem Gottesdienst einen Einmanndemonstrationszug gemacht, gegen den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche." Er lacht schallend.

"Zusammenfassend sage ich: In diesen über 50 Jahren - in den letzten 35 Jahren besonders - habe ich vieles ausprobiert, im Guten und Schlechten. Die Enttäuschungen sind nicht immer gegenwärtig, sonst würde man ja zu einer Bahnschiene laufen und sich vom nächsten Zug überfahren lassen. So weit muss es nicht kommen. Das alles ausprobiert und Wiederholungsfehler ausgeschlossen zu haben, das ist es, was ich erreichen wollte. Gesegnete Zeiten gab es auch, auch mit anderen Menschen. Und das Gegenteil. Aber müssen Menschen immer sein? Tag und Nacht? Da habe ich mir dann gesagt, wenn du schon keine richtigen Chancen gekriegt hast, dann willst du auch keine falschen. Willst auch diese mittelfalschen nicht! Und auch diese halb gutherzigen Nimmerleinstagchancen nicht, die du kriegst, wenn du die Wiederholungsfehler immer wieder machst. Irgendwann wirst du dann konsequent. Oder auch nicht."

* Im "Berliner Grünanlagengesetz" (1987 von Diepgen unterzeichnet), gibt es kein Verbot der nächtlichen Lagerung. Sie ist keine Ordnungswidrigkeit. Platzverweis ist nur bei Ordnungsstörungen zulässig. Dazu gehört aber nicht ein ungepflegtes Äußeres von Personen. Auch nicht öffentlicher Alkoholkonsum

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