Krasse statt Masse

MONUMENTAL-TV-SERIE Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ ist dicht, komplex, großartig. Hoffentlich überfordert es das deutsche Fernsehen und seine Zuschauer nicht

Es ist kein gutes Zeichen, wenn der Regisseur selbst skeptisch ist, ob eine solche Serie Erfolg haben wird

VON DAVID DENK

Der Wirtschaftsstandort Berlin ist nicht tot – und möglicherweise auch die deutsche Serienunterhaltung nicht. Letzteres ist eine gute Nachricht, Ersteres eher nicht. Aber der Reihe nach.

In Dominik Grafs von den sonst so fernsehfeindlichen Feuilletons schon vorab zum Fernsehereignis des Jahres, ach was: des Jahrzehnts, hochgeschriebener Krimiserie „Im Angesicht des Verbrechens“ floriert das Geschäft in der Hauptstadt – nur leider zahlt keiner der Profiteure Gewerbesteuer. Russenmafiasyndikate handeln mit Zigaretten, Drogen, Frauen, allem, was schnelles Geld bringt eben, und feiern sich und ihren neuen Reichtum ununterbrochen: Im „Odessa“, dem Stammrestaurant der Schattenwirtschaftselite, scheint permanent eine Festtafel gedeckt zu sein. „Wir sind nur Gast in diesem Land“, sagt ein russischer Zuhälter einmal – und lacht.

Grafs Serie erzählt in wahrlich herausragender Prägnanz und Stimmigkeit (Drehbuch: Rolf Basedow) von der Machtlosigkeit der Polizei „Im Angesicht des Verbrechens“ und seiner verfestigten Strukturen. Zwei junge Polizisten, unbestochen und aufstrebend, stellen sich diesem Kampf: Einer davon, Marek Gorsky (Max Riemelt), Sohn lettisch-jüdischer Einwanderer, hat noch eine Rechnung mit den Russen offen: Mafioso Sokolov (Georgii Povolotskyi) hat seinen Bruder getötet. Sokolov wiederum ist oft im „Odessa“, das Mareks Schwester Stella (Marie Bäumer) mit ihrem Mann Mischa (Misel Maticevic) betreibt.

Der Loyalitätskonflikt, in den diese Konstellation Marek stürzt, und die Rachegelüste, die er hinter seinem Lieber-Junge-Pokerface bekämpft, hätten andere Serien komplett getragen, doch die 480-Minuten-Monumentalerzählung von „Im Angesicht des Verbrechens“, aufgeteilt in zehn 50-minütige Folgen, die Arte ab heute (22.05 Uhr) dienstags und samstags im Doppelpack ausstrahlt, ist ungleich komplexer, reicher, weswegen so viel zum Inhalt reichen muss.

Bleibt nur zu hoffen, dass der Zuschauer das auch merkt – und mag. Es ist kein gutes Zeichen, wenn selbst der Regisseur da skeptisch ist. „Man muss aber auch sagen, dass es diese Serien, die sich nicht an die Kurzzeiterwartungen halten, beim Publikum schwer haben“, sagte Graf der Zeit. „Serien mit kurzen Sinneinheiten sind offenbar zeitgemäßer in ihrer Vermittlung, sie sind halt einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsschwäche von Grundschülern angemessen.“

Dass ein Solitär wie Graf, der im deutschen Fernsehen alles darf, sogar im Hauptabendprogramm Komplexität wagen, die Verbitterung über das Medium und seine „dumm geschossenen“ Zuschauer kaum verbergen kann, zeugt einmal mehr von der tiefen Krise des gesamten Systems – aus der es die öffentlich-rechtlichen Sender ja im Zusammenhang mit Programmhöhepunkten wie „Im Angesicht des Verbrechens“ oder auch „Kriminaldauerdienst“ immer wieder herauszujubeln versuchen.

Doch „KDD“ läuft nach der noch bis Ende Mai im ZDF ausgestrahlten dritten Staffel aus, weil die mehrfach preisgekrönte Krimiserie die Quotenerwartungen nicht erfüllt hat. Das wurde zunächst damit begründet, dass die Geschichten „auserzählt“ seien, womit ja suggeriert wird, dass eine Fortsetzung gar nicht möglich sei. Wahr ist jedoch, dass das ZDF zwar den Mut hatte, eine solche im besten Sinne unübersichtliche, dynamische Serie ins Programm zu heben – aber nicht, sie auch durchzustehen.

Nachdem das deutsche Fernsehen im Serienbereich seit den 80ern kaum nennenswerte Neuerungen hervorgebracht hat außer kurzatmigen Daily Soaps und Telenovelas, ist derzeit von der Programmqualität her wieder Besserung in Sicht – vorausgesetzt natürlich, die Öffentlich-Rechtlichen arbeiten nicht weiter an ihrer Delegitimierung, indem sie die Privaten und deren Ungeduld kopieren. Eine gute Quote ist kein schlechtes Zeichen – aber eben auch nicht unbedingt ein gutes. Ob „Im Angesicht des Verbrechens“ unter diesen Vorzeichen eine Renaissance der deutschen Fernsehserie befördert oder ihr einen Bärendienst erweist, wissen wir aber frühestens im Oktober: Dann läuft Dominik Grafs Serie im Ersten – und damit anders als bei Arte nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Hoffentlich.