Die neuen Mitbürger

TRANSZENDENZ Florian Möllers’ Fotobuch „Wilde Tiere in der Großstadt“

1.300 Nachtigallen siedeln in Berlin und stacheln einander zu immer kunstvolleren Gesängen an

VON MICHAEL RUTSCHKY

Kanadagans heißt der prächtige Vogel, den mein Cockerspaniel heute im Berliner Tiergarten vom Ufer, wo der Vogel es sich bequem gemacht hatte, ins Wasser scheuchte. Man sieht sie oft, die Kanadagänse, und ich hielt sie für eine Ansiedlungsmaßnahme der naturseligen Obrigkeit, bis ich jetzt in diesem Buch las, dass die Sorte vermutlich aus irgendeinem Zoo entfloh und sich im Freien tüchtig vermehrte.

Kein Tiergartenbesucher wird auf Obrigkeitsmaßnahmen die Füchse zurückführen wollen, von denen ich zweimal welche gesehen habe. Der Cocker musterte sie respektvoll, und sie schauten interessiert zurück. Kein Fluchtimpuls. So wenig wie bei dem Graureiher, der an einem anderen Tag besinnlich über den Parkweg stelzte. Schwer zu sagen, warum diese Begegnungen solche Freude verbreiten. Man kommt sich vor, als habe man einem kleinen Wunder beiwohnen dürfen; ein wildes Tier verwandelt die gewohnte Großstadtszene fundamental – ja, es muss so etwas wie Transzendenz sein, was im Fuchs, im Graureiher zur Erscheinung kommt, wenn sie sich im Tiergarten betrachten lassen und nicht gleich angstvoll fliehen.

Diese Freude verbreiten Florian Möllers’ Fotografien der neuen Stadtbewohner ausgiebig – ich stelle mir vor, wie man kleine Kinder zum glückseligen Quietschen bringt, wenn man ihnen das Buch zum Geburtstag schenkt. Mutter Wildschwein, die mit ihren hübsch gestromten Frischlingen eine Vorstadtstraße bearbeitet; der legendär helle Reinke Vos, der an der Bushaltestelle die Lage ausspäht; der Wanderfalke, emblematisch kühn blickend, hoch oben am Roten Rathaus. 1.300 Nachtigallen siedeln in Berlin und stacheln einander zu immer kunstvolleren Gesängen an. Und die Mandarinenten und die Waschbären und die Biber, die ein Herr Recker seit vielen Jahren sorgfältig beobachtet. Und weil wir schon mal dabei sind, zeigt uns Florian Möllers auch noch viele der seltenen Pflanzen, die nirgendwo anders als in der großen Stadt so gut gedeihen (während draußen die Landwirtschaft Flora und Fauna substanziell bedroht).

Das alles ist schon länger bekannt. Cord Riechelmann hat ein schönes Buch darüber geschrieben – „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004) – und Josef H. Reichholf, der zu Möllers ein Vorwort liefert, ebenfalls: „Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen“ (2007). Die Geschichte kommt als echte Überraschung; sie widerspricht eingelebten Erwartungen, und das mit der quasireligiösen Evidenz, die diese schönen Wesen ausstrahlen.

Denn mit den großen Städten entwickelte sich gleich ursprünglich ein kulturkritisches Lamento, das sie als Inbegriff der Entfremdung, der lebensfeindlichen Unnatur, des moralischen und physischen Verfalls denunzierte. Die große Stadt ist die große Hure Babylon. Nur durch den Kapitalismus gezwungen leben die Menschen in der Großstadt. Sind sie noch nicht vollkommen korrumpiert, so erfüllt ihre Seele eine tiefe Sehnsucht nach dem Landleben, nach dem Garten (dem Paradiesgarten, aus dem ihre eigene Schuldhaftigkeit sie vertrieben hat). Jede Menge Gegenvorschläge liegen vor, soziale und architektonische, lebensreformerische und politische und literarische. Ich habe jetzt zum ersten Mal einen Zukunftsroman von H. G. Wells gelesen (dem wir „Die Zeitmaschine“ und „Krieg der Welten“ verdanken): Er heißt „Der Traum“ (1927) und spielt in der fernen Zukunft, da die befreite und befriedete Menschheit (selbstverständlich) in einer universalen Parklandschaft lebt; längst sind alle (großen) Städte verschwunden.

Und ausgerechnet diese korrupte Unnatur der Großstadt bietet, wie nicht mehr zu leugnen ist, wilden Tieren, seltenen Vögeln und Pflanzen einen neuen Lebensraum. Mit ihnen imaginiert sich die Großstadt gewissermaßen selbst als den Paradiesgarten – Florian Möllers’ Fotografien inszenieren die Brachen, Friedhöfe, Parks, wo die Neuankömmlinge siedeln, höchst geschickt so, als lägen sie jwd, wie man in Berlin sagt, abgeschieden janz weit draußen.

Hier und da zeigt sich freilich immer mal wieder doch der alte kulturpessimistische Diskurs, als könnten wir das Glück nicht fassen, als erforderte die Freude einen Gegenzauber, damit sie bleibe. Im Geleitwort der Senatorin für Stadtentwicklung, mehrfach in Möllers’ Texten findet man die Formel, die Füchse und Nachtigallen, die Orchideen und Biber „erobern sich die Natur zurück.“

Das ist doch daneben. Der Vorgang ist eben kein kriegerischer – es ist ja die durchdringende Friedlichkeit, die bezaubert. Zu den Erklärungen der Neuansiedlung gehört, dass in der Stadt Jagdruhe herrscht, wie die Füchse, Wildschweine und Konsorten rasch lernen.

Und es handelt sich natürlich nicht um die Natur, aus der wir sie vertrieben haben, wie jeder Dummerjan zu wissen meint, und in die sie jetzt wieder Einzug halten (weshalb gleich durchgreifende Schutzmaßnahmen anstehen). Es ist ein ganz neuer Raum, den die wilde Fauna und Flora in der Großstadt hervorbringt, und auf die Innovationen richtet sich alle Aufmerksamkeit.

■ Florian Möllers: „Wilde Tiere in der Stadt. Inseln der Artenvielfalt“. Knesebeck, München 2010, 176 Seiten, 29,95 €