Spätes Echo der Antiautoritären

KONSERVATIV Unter Veteranen: Psychoanalytische Kulturkritik am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/Main

Persönliche Identität entsteht nicht als Entfaltung und Anreicherung eines inneren Kerns, sondern in der tätigen Aneignung der eigenen Lebenswelt

Nach der faschismusanfälligen „autoritären Persönlichkeit“ und dem „narzisstischen Sozialisationstyp“ diagnostizieren wir heute die Depression als massenhaft auftretende Zeitkrankheit eines „erschöpften Selbst“, das den unerschöpflichen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwängen einer kapitalistischen Multioptionsgesellschaft mit ihren neoliberalen Zumutungen zu entkommen versucht. Mit den Zeiten ändern sich auch die Zeitdiagnosen. Fünfzig Jahre nach seiner Gründung lud das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut zu einer Tagung, um aktuelle Fragen einer psychoanalytischen Sozialpsychologie und Kulturtheorie zu diskutieren.

Die Idee vom wahren Selbst

Identitätsbildung gelingt, so die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi in ihrem Eröffnungsvortrag, indem der Einzelne sich performativ ein ihm angemessenes Selbst- und Weltverhältnis aneignet. Störungen bei diesem Aneignungsprozess münden in einem Entfremdungsempfinden, das im Übergangsbereich von Psychischem und Sozialem anzusiedeln ist. Selbst- und Weltentfremdung bleiben miteinander verschränkt. Beides zusammen erst ergibt jene „Beziehung der Beziehungslosigkeit“, die das Eigene in etwas Fremdes verwandelt. Jaeggis Grundthese, die für psychoanalytische Ursprungstheorien keinen Platz lässt, lautete: Persönliche Identität entsteht nicht als Entfaltung und Anreicherung eines inneren Kerns, sondern in der tätigen Aneignung der eigenen Lebenswelt. Die Idee vom „wahren Selbst“, das sich in der sozialen Realität bloß entäußert und verwirklicht, ist ein Mythos. Wer wir sind, erfahren wir erst im kommunikativen Austausch mit Anderen, in der Interaktion mit unserer Umwelt.

Damit war nun Lilli Gast gar nicht einverstanden. Sie verteidigte eine klassische Psychoanalyse gegen alle interaktionistischen Revisionen als „das Andere der Sozialwissenschaft“ und beharrte auf einer strikten Trennung der Gegenstandsbereiche. Resolut postulierte sie ein nach innen ausgelegtes Subjekt, das zur objektiven Realität in einem Grundverhältnis „konstitutiver Entfremdung und Zerrissenheit“ stehe: ein vorsoziales, ja asoziales Wesen, das durch seine unbewusste Triebdynamik bestimmt werde, auch wenn dieses Unbewusste seinerseits zutiefst kulturell und gesellschaftlich durchdrungen sei. Den Widerspruch löste die Referentin dialektisch auf. Indem sie programmatisch wie rhetorisch an eine Frankfurter Tradition der 68er-Generation anschloss, die der Kritischen Theorie der Gesellschaft eine „Kritische Theorie des Subjekts“ zugesellt hatte: eine zeitkritische Begriffsmaschine, die jahrzehntelang die immergleichen Deutungsmuster und Sprachformeln gebraucht und als „deutscher Sonderweg“ (Reimut Reiche) psychoanalytisch wie gesellschaftstheoretisch in Sackgassen geführt hatte.

Nichts zum Body-Design

Damit war der Sound vorgegeben, der sich (mit wenigen Ausnahmen) durch die Vorträge und Diskussionen über Psychoanalyse und Politik, Sozialisation,Ökonomie zog: eine Mischung aus psychoanalytischen Altkonzepten und linkskonservativer Gesellschaftskritik, ohne den doppelten Aufklärungsanspruch einmal an sich selbst zu richten. Oder auf die gegenwärtige Lebenswelt. Kein Wort zur global vernetzten Mediengesellschaft mit ihren Spiegel- und Resonanzräumen für „reflexive“ Identitätsbildung. Nichts zum weltweiten Anstieg von Body-Design und anderen Formen der auffallenden Körpermodifikation, der nicht nur zeitdiagnostische Schlüsse erlaubte, sondern auch einen Einblick in die intersubjektive Natur der menschlichen Psyche. Als Beobachter hätte man den Eindruck gewinnen können, dass unter dem Tagungsthema „Die Zukunft der Gegenwart“ eher die „Gegenwart der Vergangenheit“ vorgeführt wurde.

Bis Sighard Neckel vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in einem furiosen Schlussvortrag die kulturelle Integrationsfähigkeit der Marktökonomie vorführte. Diese habe es stets verstanden, die radikale Kapitalismuskritik, wie sie laufend von kritischen Intellektuellen, sozialen Bewegungen oder künstlerischen Avantgarden formuliert wird, für die eigene Erneuerung zu verwenden. Liefere die neoliberale Aufforderung zu mehr Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Flexibilität nicht ein spätes Echo der antiautoritären Bewegung? Eindrucksvoll erläuterte er seine ernüchternde These am Beispiel eines ironisch gegen die westliche Konsumkultur gerichteten Projekts, das eine Künstlergruppe um Gerhard Richter vor fast vierzig Jahren in einem Düsseldorfer Möbelhaus inszeniert hatte. Titel: „Kapitalistischer Realismus“. MARTIN ALTMEYER