Graffiti siecht nicht

GRAFFITI Was sieht ein Literat, über achtzig Jahre alt, wenn er durch Berlins Straßen geht? Er sieht ein sich ständig veränderndes Textuniversum. Giwi Margwelaschwili hat ein Buch darüber geschrieben. Ein Auszug

Man kann ihr den Tod wünschen, doch Graffitikunst bleibt uns frech weiter im Blick

VON GIWI MARGWELASCHWILI

Gräfitti siecht.

Einige ManuMauerskripte lassen orthographisch zu wünschen übrig, wie dieses Beispiel zeigt. Es spricht vom Sieg einer bestimmten Art und Weise, Mauern zu bemalen, ihnen mit Sprühdosen ein buntes Bild oder eine Aufschrift zu verpassen. Graffitis sind häufig sehr bunte Zeichnungen, welche – wenn sie gut sind – einen unbezweifelbaren ornamentalen Wert besitzen und ihren Betrachter angenehm überraschen können. Das Graffiti kann man als eine ManuMauermalerei bezeichnen. Was einem Menschen, der aus einer Weltgegend kommt, in der es diese Malerei nicht gibt (so eine Gegend war etwa die Sowjetunion, in der die Häuserwände vielleicht schmutzig, doch zugleich blitzblank waren, da es keine ManuMauerpresse gab, von ManuMauermalerei ganz zu schweigen), in Europa und vor allem in Deutschland als Erstes in die Augen fällt, ist diese ManuMauerbemalung mit Graffitis. Sie prangt fast überall, wohin man sieht, und oft so hoch an Wänden, Überführungen, neben oder über Eisenbahnlinien, dass man sich fragen muss, auf welchem halsbrecherischen Weg der ManuMauerbemaler überhaupt an seine Wirkungsstätte herankam, und wo man ihn umso mehr zu bewundern hat in seiner Mal- oder Kletterkunst.

Der Ausspruch „Gräfitti siecht“ deutet auf einen Kampf, den die ManuMauerbemaler mittels Graffitis führen, den sie entweder immer noch zu bestehen oder sogar schon so gut wie gewonnen haben. Und er gehört zweifellos in die Kategorie der ManuMauerlehrsätze, weil er eine These aufstellt, die von einem nahezu grenzenlos vorhandenen Beweismaterial gestützt wird. Denn obschon eine große und wachsende Unzufriedenheit mit der ManuMauermalerei zu spüren ist, lässt sich konstatieren, dass sie nichts gegen diese Malkunst auszurichten vermag, dass die Künstler in dieser Kunst ständig nachwachsen und nichts so perspektivisch ist wie die Ausstellungen der Mauersprühgemälde in unseren Städten.

Man kann der Graffitikunst wütend den Tod wünschen, sie totsagen oder glauben, und doch bleibt Graffiti uns frech und hartnäckig weiter im Blick, genauso zäh und unverneinbar, wie es in dem angeführten ManuMauerskript ausgedrückt ist, nämlich als seine Negation und Affirmation zugleich: hat doch sein Verfasser das Gegenteil von dem angeschrieben, was er sagen wollte. Graffiti siecht eben gerade nicht.

Jetzt hilft uns nur noch Musik.

Dieses ManuMauerskript war in der Zeit kurz nach der Wende in Berlin zu lesen und zwar nahe der Chausseestraße, im Ostteil der Stadt. Der Satz ist ein Lehrsatz, denn er verweist auf Musik als Hilfsmittel gegen unerwünschte, in der Regel politische Vorgänge, Veränderungen, Entwicklungen und Zustände, die sich in der Gesellschaft ergeben haben und gegen die sich – nach der Ansicht des Mauermanuskriptverfassers – nichts anderes mehr machen lässt als Musik.

Wie jedes ManuMauerskript ist auch dieses lakonisch, das heißt, um ganz verstanden zu werden, setzt es ein bestimmtes allgemeines und spezielles Wissen voraus, ohne das es für seinen Leser rätselhaft bleiben muss. Der Lehrsatz lässt beispielsweise offen, welche Musik gemeint ist. Die klassische? Die leichte? Der Jazz, der Rock oder Pop? Des Weiteren ist hier nicht klar, wogegen die Musik als Hilfsmittel eingesetzt werden soll.

Die Wand, auf der man den Lehrsatz lesen konnte, stand in Ostberlin. Beschwerte sich mit dem Satz vielleicht ein DDR-Bürger gegen Wende und Wiedervereinigung? Meinte er, dass man nach diesen umwälzenden Geschehnissen nur noch in der Musik Trost finden könnte? Wollte er sagen, dass mit der Rückkehr eines ganzen Stadtteils zum Kapitalismus etwas passiert sei, dem man bloß mit einer bestimmten Art von Protestmusik, etwa mit Rock, Paroli bieten kann? Das wäre nicht aus der Luft gegriffen, denn das mit Trommeln und Trompeten verknüpfte Singen ist nun einmal eine Form des Protestes gegen jede Art von Druck auf das Sozium, egal ob östlichen oder westlichen Ursprungs.

Trotzdem ist dem Mauerzeitungsleser dieses ManuMauerskript nicht sinnvoll vorgekommen. Denn Rock und Pop – oder welche Musik auch immer – stehen hier als das allerletzte Protestmittel. Somit dürfte jemand diesen Satz geschrieben haben, der der Meinung war, dass es vor der Wende ein anderes Gegenmittel gegeben hat. Hat er darunter die linke Ideologie des marxistisch-leninistischen Schlags verstanden – und so kann das „nur noch“ nur gemeint gewesen sein –, dann ist das ein Irrtum. Denn diese Ideologie hat sich in der Ideengeschichte als eine der unseligsten entpuppt, als der denkbar größte Flop für den gesamten Staatenblock, der sie historisch vertreten hat.

Wenn Rock und Pop im zwanzigsten Jahrhundert so lange an einer unseligen Ideologie gerüttelt haben, bis diese in ihren Gesellschaften kollabierte, so wirklich am Marxismus-Leninismus. Diese Tanzmusik hat ihn aus allen jüngeren Köpfen und Herzen des sowjetisierten europäischen Ostens so spurlos weggerockt, dass man sich heute verwundert fragen muss, ob es diese Ideen überhaupt jemals gegeben hat.

Vor diesem historischen Hintergrund wird das besagte Mauermanuskript zu einem Antidokument: was vor der Wende politische Gegenmusik war, konnte gleich nach ihr unmöglich als ebensolche Musik gelten. Und doch ist dieses Mauermanuskript nicht völlig als Nonsens zu werten, trotzdem lässt es sich nicht mit anderen rückwärts gewandten Mauerin- oder aufschriften vergleichen, wie etwa dieser: Bleib stehen!

■ Dieser Text ist Giwi Margwelaschwilis Buch „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“ entnommen, das dieser Tage erscheint. Verbrecher Verlag, 80 Seiten mit Fotos von Alexander Janetzko, 12 Euro