Filmfestival Cannes: Die Weltwichtigkeit der Kinobilder

Festgehaltene Regisseure, Finanzkrise, Kolonialismusstreit: Die Wirklichkeit brach dieses Jahr häufig ein ins Paralleluniversum der Filmfestspiele von Cannes.

Französische Algerienkrieg-Veteranen protestieren gegen den Film "Hors la loi" des algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb. Bild: rtr

Es gibt Grund zum Jubeln. Am Sonntagabend wurde in Cannes die Goldene Palme verliehen, und der Regisseur, der sie im Grand Théâtre Lumière entgegennahm, hat sie verdient wie kein anderer: Apichatpong Weerasethakul. Sein Wettbewerbsbeitrag "Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" ("Onkel Boonmee, der sich an seine vergangenen Leben erinnern kann") war der schönste, der tiefste, der überraschendste Film in diesem Cannes-Jahrgang. Umso schöner, dass die Jury unter Vorsitz von Tim Burton dies genauso sah.

Der Film erinnert in vielem an frühere Werke des 1970 geborenen Thailänders. Er spielt im Nordosten des Landes, viele Szenen sind im Wald gedreht, die Darsteller sind zwar aus anderen Filmen des Regisseurs bekannt, aber keine professionellen Schauspieler, der Film gönnt sich Abschweifungen und Subplots, die er sich aus populären Fernsehserien der 70er-Jahre borgt, die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Fabelwesen sind nicht klar fixiert, das frühe Kino mit seinen Taschenspielertricks bildet einen Bezugspunkt, und obwohl vieles verspielt, leicht und friedlich anmutet, wird etwas Fundamentales verhandelt, nämlich Krankheit und Tod.

Goldene Palme: "Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" von Apichatpong Weerasethakul (Thailand)

Großer Preis: "Of Gods and Men" von Xavier Beauvois (Frankreich)

Jury-Preis: "A Screaming Man" von Mahamat-Saleh Haroun (Tschad)

Beste Regie: Mathieu Amalric für "On Tour" (Frankreich)

Bester Hauptdarsteller: Javier Bardem (Spanien) in "Biutiful" und Elio Germano (Italien) in "La Nostra Vita"

Beste Hauptdarstellerin: Juliette Binoche (Frankreich) in "Copie Conforme"

Bestes Drehbuch: "Poetry" von Lee Chang Dong (Korea)

Goldene Kamera (Regiedebüt): Michael Rowe (Mexiko) für "Ano Bisiesto"

Bester Kurzfilm: "Chienne dHistoire," von Serge Avedikian (Frankreich)

Wenn es eine Funktion des Kinos ist, uns für die Übergangssituationen des Lebens zu wappnen, uns auf sie vorzubereiten und uns durch sie hindurch zu begleiten, dann erfüllt "Uncle Boonmee" diese Funktion auf berückende Weise. Der Film schaut seinem Protagonisten beim Sterben zu. Oder besser: Der Film schaut zu, wie dieser Mann von einem Leben in ein anderes übergeht und sich dabei seiner vergangenen Leben bewusst wird: "Im Angesicht des Waldes, der Hügel und der Täler erstehen meine Leben als Tier und als andere Wesen vor mir auf."

Die ersten Bilder zeigen einen Wasserbüffel in der Dämmerung; er reißt sich von einem Baumstamm los, trabt durch ein Reisfeld und durch den Wald, bis ihn sein Hirte wieder einfängt. Vielleicht ist dieser Büffel eine vorausgegangene Inkarnation des Protagonisten; in jedem Fall schlagen diese ersten Einstellungen auf ähnliche Weise in den Bann wie die Aufnahmen des Tigers in "Tropical Malady", einem Film, für den Weerasethakul 2004 in Cannes den Jurypreis erhielt.

Boonmee (Thanapat Saisaymar) lebt auf dem Land. Er züchtet Bienen und baut Tamarinden an, er hat ein Nierenleiden, das er schlechtem Karma zuschreibt. Als Soldat hat er viele kommunistische Untergrundkämpfer getötet, das hole ihn jetzt ein, sagt er. Ein aus Laos eingewanderter Krankenpfleger namens Jaai (Samud Kugasang) kümmert sich um Boonmee, man sieht in einer langen, ungeschnittenen Einstellung, wie er die Dialyse vorbereitet und durchführt. Boonmees Schwester Jen (Jenjira Pongpas) reist aus Bangkok an, ein junger Mann namens Tong (Sakda Kaewbuadee) ist auch zugegen. Als Boonmee, Jen und Tong zu Abend essen, erscheint, zunächst noch verschwommen, dann immer schärfer, das heißt den übrigen Figuren im Bild immer ähnlicher werdend, die vor etwa 20 Jahren verstorbene Frau Boonmees. Ein wenig später gesellt sich der vor etwa 15 Jahren verschwundene Sohn dazu. Er ist zu einem zotteligen, schwarzen Affen mit stechend roten Augen mutiert.

"Warum hast du dir das Haar so lang wachsen lassen?", fragt ihn Boonmee. Und dann: "Seid ihr gekommen, um mich mitzunehmen?"

Fast wäre Apichatpong Weerasethakul nicht nach Cannes gekommen (siehe Interview auf Seite 16). Die angespannte Lage in Bangkok hätte seine Reise um ein Haar verhindert. Es ist dies ein Einbruch von Wirklichkeit ins hermetische Festivalgeschehen, wie er sich in diesem Jahr mehrmals ereignete. Wer in Cannes von Kinosaal zu Kinosaal hastet, hat in normalen Jahren nach ein paar Tagen den Blick für das, was außerhalb des Festivals vor sich geht, verloren. Der künstlerische Leiter, Thierry Frémaux, erscheint ihm dann mächtig wie Barack Obama, die Croisette und das Festivalpalais haben etwas von einem Kleinstaat, dessen geringe Fläche sich umgekehrt proportional zu seiner Weltwichtigkeit verhält.

In diesem Jahr ließ sich diese Illusion nicht halten. Das lag zunächst einmal daran, dass der iranische Filmemacher Jafar Panahi in Teheran im Gefängnis festgehalten wurde und alle Appelle und Petitionen zu seinen Gunsten, gleich ob von der Festivalleitung, von französischen Politikern oder von Filmschaffenden wie Steven Spielberg, Robert De Niro oder Claude Lanzmann, ungehört zu verklingen schienen. Vor neun Tagen veröffentlichte die Internetseite laregledujeu.org eine Erklärung Panahis, in der er ankündigt, fortan weder Wasser noch Nahrung zu sich zu nehmen. Abbas Kiarostami widmete die Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsbeitrag "Copie conforme" seinem inhaftierten Landsmann. Die Hauptdarstellerin, Juliette Binoche - sie wurde am Sonntagabend als beste weibliche Darstellerin ausgezeichnet -, brach währenddessen in Tränen aus; vor der Vorführung von Manoel de Oliveiras Film "O estranho caso de Angélica" wurde ein älterer Kurzfilm gezeigt, eine Interviewsequenz, in der Panahi von einer Vorladung bei der Polizei berichtet. Am Ende, nach dreieinhalb Stunden Verhör und Einschüchterung, habe ihm der Kommissar versichert, wie sehr er seinen Film "Der Kreis" liebe.

Die Nachrichtenagentur dpa meldete unterdessen, auf Internetseiten von iranischen Oppositionellen sei die Rede davon, dass Panahi auf Kautionsbasis freigekommen sei. Eine offizielle Bestätigung der Meldung gibt es bisher nicht.

Ein weiteres Mal brach die Wirklichkeit am Freitag ins Festivalgeschehen ein, als circa 1.300 Menschen zum Rathausvorplatz zogen, um gegen den Wettbewerbsbeitrag "Hors la loi" ("Außerhalb des Gesetzes") von Rachid Bouchareb zu protestieren. Die Vorführungen des Films im Grand Théâtre Lumière fanden unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Taschen wurden zweimal durchsucht; Wasserflaschen mussten abgegeben werden; jeder Kinobesucher wurde abgetastet, in den Seitenstraßen der Croisette standen Polizisten in voller Kampfmontur.

Die französisch-belgisch-algerisch-tunesische Koproduktion hatte die Gemüter schon erhitzt, bevor das Festival überhaupt anfing. Lionnel Luca, der Abgeordnete der Regierungspartei UMP für den Wahlkreis Meeralpen, hielt den Film für antifranzösisch und warf ihm Geschichtsklitterung vor, freilich ohne ihn gesehen zu haben. "Hors la loi" zeichnet den Lebensweg dreier Brüder nach, die in den 20er-Jahren in der algerischen Stadt Sétif zur Welt kommen. Einer von ihnen muss für Frankreich in Indochina kämpfen, der zweite landet im Gefängnis, weil er sich für die Unabhängigkeit Algeriens stark macht, der dritte wandert mit der Mutter nach Paris aus und hält sich als Zuhälter und Boxpromoter über Wasser.

Der Ärger entzündet sich an der Darstellung eines Massakers, das die Franzosen am 8. Mai 1945 in Sétif verübten, nachdem algerische Unabhängigkeitskämpfer 103 Franzosen getötet hatten. Etwa 10.000 Algerier kamen dabei ums Leben. Die entsprechende Sequenz nimmt in Boucharebs Film etwa sechs Minuten in Anspruch. Tatsächlich ist an ihr nicht zu erkennen, dass die Gewalt zunächst von den Algeriern ausging. Dennoch ist es frappierend, zu sehen, wie schwer es eine kritische, parteiische Perspektive auf die Kolonialpolitik Frankreichs in Frankreich hat und wie viel Gewicht den Pieds Noirs und den ehemaligen Algerienkämpfern noch heute beigemessen wird. Bouchareb war entsprechend indigniert.

Was nichts daran ändert, dass "Hors la loi" in seiner biederen, unbeholfenen Art eher die Grenzen des Erzählkinos vor Augen führt, als dass er zu einer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte beitrüge. Er unterscheidet sich darin nicht von anderen in Cannes gezeigten Filmen, die Zeitgeschichte oder aktuelle politische und wirtschaftliche Schieflagen behandelten.

Ken Loachs Antikriegsfilm "Route Irish" zum Beispiel verzettelte sich in einem übertrieben druckvollen Krimiplot, und Oliver Stones Versuch, mit "Wall Street: Money Never Sleeps" etwas Substanzielles zur Finanzkrise zu sagen, scheiterte an der simplen Weltsicht des Regisseurs. Der Glaube an die Guten und an die Bösen ist ihm wichtiger als der Wille, eine dem System immanente Dysfunktion zu beschreiben. So ist das Sequel zum Film aus dem Jahr 1987 nicht viel mehr als eine Eloge auf Familienwerte. Für die Krise findet Stone die denkbar nächstliegenden Bilder: umkippende Dominosteine.

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