Die Klasse macht’s

POSTKOLONIAL Gayatri Chakravorty Spivak wendet sich gegen den Irrglauben mancher Intellektueller, man könne durch Möbelrücken das Haus der Gesellschaft neu einrichten

Nie vergessen: Womit wir argumentieren, ist nicht unsere wirkliche Kultur – Kultur ist immer das, was sich dem konkreten Zugriff entzieht

VON JETTE GINDNER

Von ihrer Heldin hatten sich die Studierenden prominente Unterstützung im Kampf gegen Kürzungen in der Lehre erwartet – doch es kam etwas anders bei der einstündigen Frage-und-Antwortsession, die Gayatri Spivak mit Studierenden des Berliner Otto-Suhr-Instituts (OSI) für Politikwissenschaft am vergangenen Freitagabend abhielt.

Spivak lehrt an der Columbia University in New York. 1942 in Kolkata, Indien, geboren, ist die 68-Jährige heute die international wohl bekannteste Vertreterin postkolonialer Theorie. Ihr wohl berühmtester Text „Can the Subaltern Speak?“ (1988) kritisiert die Sprachlosigkeit der Marginalisierten und ihre Bevormundung durch die westliche Welt. Spivaks Forderung nach subversivem Zuhören, das die Marginalisierten zum Sprechen für sich selbst ermächtigt, wandte sich auch gegen einen der weißen Mittelklasse verpflichteten Feminismus. Spivak gilt als wichtige Vermittlerin zwischen Feminismus, Globalisierungskritik und Marxismus.

Zur der konkreten Situation der Politikstudierenden am OSI Berlin hatte Gayatri Spivak eher wenig zu sagen – in verständlicher Unkenntnis der deutschen Situation. Sie forderte die Studierenden vielmehr dazu auf, ihre Proteste gegen den Kahlschlag aller Inhalte, die nicht unmittelbar den Interessen von Wirtschaftsverbänden und Politik dienten, in einen internationalen Kontext zu stellen. Wer echte Veränderungen bewirken wolle, könne nicht an lokalen oder nationalen Grenzen stehen bleiben: „Das Kapital hat sich längst globalisiert.“

Spivak zeigte sich daher auch erstaunt darüber, dass der Kampf des Philosophieinstituts der Middlesex University gänzlich an den Berliner Studierenden vorbeigegangen zu sein schien. Englands einziges Institut für zeitgenössische Kontinentalphilosophie war im Frühjahr wegen angeblicher Nichtrentabilität geschlossen worden. Studierendenproteste mit internationaler Unterstützung („Save Middlesex!“) erreichten am 8. Juni schließlich die Zusage des Londoner Kingston College, das gesamte Philosophieinstitut von Middlesex einschließlich Studierenden und Doktoranden zu übernehmen.

Gayatri Spivak ging es aber nicht um institutionelle Fragen, sondern um die inhaltliche Ausrichtung postkolonialer Studien und sinnvolle Perspektiven von Gesellschaftskritik. Die Geschichte des Kolonialismus steht dabei längst nicht mehr im Zentrum. „Es geht um ein Denkverbot: Die Trennungslinien der Globalisierung sind die gleichen wie im Kolonialismus – dieser Zusammenhang wird tabuisiert“, meint Spivak. Postcolonial studies seien heute als globalization studies zu denken.

Auf die Frage einer Studentin, warum sie den Begriff „Dritte Welt“ in ihren Büchern nicht durchgängig in Anführungszeichen setze, äußerte sich die seit 1959 in den USA lebende Spivak unerwartet kritisch über politische Korrektheit: „Manche Intellektuellen denken, sie könnten das Haus Gesellschaft neu einrichten, indem sie die Möbel verrücken. Sprache kann man ändern – die Annahmen dahinter bleiben allzu oft bestehen.“

Spivak bewertet den Faktor race für gesellschaftspolitisch weniger wichtig als den Faktor class. Sie befindet deshalb eine Veränderung realer Lebensverhältnisse für wichtiger als bloße Sprachkritik. Jeder Kampf gegen kulturelle Diskriminierung sei in Wirklichkeit ein Kampf für sozialen Aufstieg – das war Spivaks zentrale Aussage an diesem Abend. „Ich kann jederzeit in einem Sari zur Arbeit gehen; würde ich im Supermarkt an der Kasse arbeiten, wäre das nicht so“, sagt Spivak. Und weiter: „Ich habe noch nie gelesen, dass ein nichtweißer Millionär wegen kultureller Diskriminierung vor Gericht geklagt hätte.“ Kulturelle Identität, so wurde spätestens an diesem Abend klar, ist für Spivak denn auch weniger eine Form von emotionaler Realität als vielmehr ein nützliches Argument im Kampf gegen Marginalisierung. „Strategischer Essentialismus“ legitimiert nach außen hin die Identifikation mit stereotyp-folkloristischen Elementen wie traditionellem Essen, Kleidung und Musik. Aber, erinnerte Spivak die Studierenden am Berliner Institut für Politikwissenschaft: „Wir dürfen darüber nie vergessen, dass das, womit wir argumentieren, nicht unsere wirkliche Kultur ist – Kultur ist immer das, was sich dem konkreten Zugriff entzieht.“

■ Mehr Informationen zu den Studierendenprotesten am OSI Berlin unter: http://vakanzentanzen.blogsport.de/