Gewinnen gefällt den Deutschen gut

WM-WAHN Schwammige Bürohengste im Deutschlandtrikot, hysterische Solarium-Flatrate-Alkopops-Mädels: Die undefinierte und überhaupt nicht subversive Fröhlichkeit des Deutschlandmobs verwirrt den Fußballfan

„Iren? Sie irren, Herr General!“ – „Oberwachtmeister reicht völlig!“, korrigiert der Beamte

VON JURI STERNBURG

Das vermeintlich hochoffizielle Schreiben flattert seit einiger Zeit durch die E-Mail-Briefkästen der plötzlich wieder fußballverrückten Nation. „Sie haben Post!“, klärt mich eine notorisch androgyne Stimme auf. Die Bekanntmachung, angeblich vom Verkehrsministerium verschickt, macht Autofahrer auf die neuen StVO-Kennzeichnungen während der Fußball-WM aufmerksam. So werden rücksichtslose Fahrer seit dem 11. Juni 2010 für ihre ignorante Fahrweise mit einer kleinen Fahne gekennzeichnet (dezent in den Farben Schwarz-Rot-Gold gehalten). Besonders dreiste Wiederholungstäter erkennt man an einer zweiten Fahne am Auto. Unverbesserliche Rüpel können bis zu vier Fahnen verpasst bekommen. Es scheint zu funktionieren: Die Stadt ist voll von gekennzeichneten Dränglern.

Doch Spaß beiseite, es ist wieder so weit: Endlich dürfen wir wieder! Schwarz-Rot-Gold auf allen Autos. Opa, hau den Gasgrill an, ich hol schon mal das Bierfass hoch, Mutti schmiert die Stullen. Und was sagt der Opa, wenn man ihn um seine Meinung bittet? „Deutschland ist eine Turniermannschaft!“ Und da hat er recht. Da die entscheidenden Spiele einer Nationalmannschaft meist im Rahmen eines Turniers ausgetragen werden, ist es natürlich sehr praktisch, wenn man sich so titulieren lassen darf. Die anderen jedenfalls haben keine Turniermannschaften, so viel ist klar.

Kontrollierte Leidenschaft

Zufrieden schielt man auf die grottenschlechten Engländer, die überalterten Italiener oder auf die Franzosen und ihren unrühmlichen und unflätigen WM-Abschied. So ein Tohuwabohu wäre in Deutschland nicht möglich. Leidenschaft ja, aber bitte etwas kontrolliert. Außer wir gewinnen, dann geht die Post ab, denn gewinnen gefällt den Deutschen generell sehr gut. Ob auf den Straßen, in den Biergärten oder in den heimischen Wohnzimmern: krampfhaft versucht jeder, „the feeling of 2006“ heraufzubeschwören, nur leider fehlen dazu die ausländischen Fans. Ohne die Horden von englischen Kampftrinkern mit Wehrmachtshelmen, die mit Plastikkänguruhs bewaffneten Australier oder die mit Bierkrugmützen ausgestatteten Holländer merkt auch der Deutsche mehr oder weniger schnell, dass seine schwarz-rot-goldene Perücke und die Tonnen von Farbe im Gesicht sehr abstrus wirken, wenn er sich aus der Masse entfernt und den Heimweg antritt. Also folgt er einem urdeutschen Prinzip und hält sich in großen Gruppen auf. Dann wird gefeiert. Wer nicht feiern will, wie etwa der Busfahrer auf der Eberswalder Straße nach dem 4:0-Sieg über Australien, dem haut man dann die Scheiben ein.

„Hurra, hurra, die Deutschen die sind da!“, grölt der Mob, und ich frage mich, ob ich auch so abgeschreckt wäre, wenn die alle schwarz vermummt wären und den Bus aus anderen Gründen demolieren würden. Nein, wäre ich wohl nicht. Die undefinierte und überhaupt nicht subversive Fröhlichkeit ist es, die mich so verwirrt. Als geradezu fanatischer Fußballfan habe ich Verständnis für so einige Auswüchse dieses Sports. Auch Hooligans haben ihre Daseinsberechtigung, schließlich müssen Waldlichtungen und abgelegene Parks ja für irgendwas erfunden worden sein. Die Baseballschlägerindustrie lebt von den renitenten Außenseitern.

Die Straße ist grün

Aber schwammige Bürohengste im Deutschlandtrikot und hysterische Solarium-Flatrate-Alkopops-Mädels, die aus dem Schutz der Masse leere Bierflaschen auf die Müllabfuhr werfen, gehören wohl zu Deutschlands Kultur wie das Baguette zu den Franzosen und die Spaghetti zu den Luigis. Als ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nach dem ersten Klose-Tor von einem „inneren Reichsparteitag“ spricht, druckt unser aller Lieblingszeitung Bild eine fingernagelgroße Meldung und erklärt, wie es hätte heißen müssen: „Es war ihm eine innere Genugtuung!“ Gut, dass wir das geklärt haben. Daneben zwei Sonderseiten über den „politischen Terror auf den Straßen“, der Verfassungsschutz hat neueste Erkenntnisse vorgelegt.

Auf der Kastanienallee wurde vor Kurzem der Sieg über Ghana gefeiert. Die Polizei hatte aus dem Australienspiel gelernt und tauchte die Straßen in ein dezentes Grün. Einige der Fans ätzten gegen das Grün, immerhin ist es Bestandteil der ghanaischen Fahne. Doch ein vorlauter Beamter, der seinen Wagen freiwillig mit dem „Rücksichtsloser Fahrer“-Wimpel gekennzeichnet hatte, erklärte flapsig: Wenn überhaupt, dann wären sie ja wohl Irlandfans. Mit dieser Bemerkung provozierte er folgende Unterhaltung mit einem angetrunkenen Flaschensammler: „Iren? Sie irren, Herr General!“ „Oberwachtmeister reicht völlig!“, korrigierte der Beamte und erhielt ein süffisantes: „Ich hab’s ja nur gut gemeint, Sie Ire!“ zur Antwort. Dies alles ist natürlich sehr freundlich gegenüber den Iren, schließlich haben diese die WM nur ganz knapp wegen der „Schummel-Franzaken“ verpasst. Die Iren haben also theoretisch die stärkste und gewalttätigste Fanbewegung in Berlin. Da ziehen sich selbst die Deutschen schnell zurück.