DIE GRÜNEN UND DIE PRÄSIDENTENWAHL: DEFIZITÄRE HANNAH-ARENDT-LEKTÜRE UND DEMOKRATIETESCHNISCHE MÄNGEL
: Freiheit von und zu

MICHA BRUMLIK

GOTT UND DIE WELT

Die Grünen beziehungsweise ihnen nahestehende Stiftungen vergeben alle Jahre Preise auf den Namen von Hannah Arendt. Auf dem langen Weg von einer fundamentalistischen, oftmals noch marxistisch auftretenden Partei, die auf der radikalen Abschaffung des die Umwelt gefährdenden Industriekapitalismus bestand, ist in drei Jahrzehnten eine ökologisch orientierte, im Umgang kluge, allseits koalitionsfähige linksliberale Partei geworden, die sich nach der Abstoßung von Karl Marx auf die Suche nach neuen theoretischen Leitfiguren machte.

Bald schon war die persönlich bewundernswerte, in ihrem Widerstand gegen Nationalsozialismus und Totalitarismus ausgewiesene Hannah Arendt gefunden, deren Ausspruch „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ man gern zitierte und noch immer zitiert. Indes darf bezweifelt werden, ob Arendt wirklich gelesen wird. Zur Erinnerung: In ihrem bahnrechenden Beitrag zur politischen Philosophie „Vita Activa“ wandte sich Arendt unter Berufung auf Aristoteles gegen Marxens Metaphysik der Arbeit, indem sie auf der Differenzierung dreier Begriffe bestand: Während „Poiesis“ etwa handwerkliches Hervorbringen bedeute und „Techne“ Formen des zweckrationalen Tuns, so bezeichne der Begriff „Praxis“ Handlungen, die ihren Zweck und ihren Wert in sich selbst haben, Handlungen, die man nicht vollzieht, um etwas jenseits ihrer zu erreichen, sondern die ihren Lohn in sich selbst tragen.

Irreduzible Pluralität

In ihrem durchaus umstrittenem Bezug auf die attische Demokratie will Arendt die Sphäre des politischen Handelns als einen Raum freien Tuns verstanden wissen, dessen ganze Leidenschaft der gemeinsamen Gestaltung eines Ortes gilt, indem eine irreduzible Pluralität von Menschen im Licht der Öffentlichkeit existieren.

Arendts Pointe besteht darin, die im Lichte der Öffentlichkeit der Polis vorgetragenen Lebensentwürfe nicht deterministisch auf materielle Lagen und Bedürfnisse – man könnte dies als „das Soziale“ bezeichnen – zu reduzieren. Sie wollte davor warnen, politisches Handeln als determinierten Ausdruck sozialer Lagen zu sehen – wiederum eine Annahme, die ihrer Meinung nach Karl Marx vertrat.

Was das mit den Grünen zu tun hat? Deren Fraktionsvorsitzende ist eine resolute, zupackende Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat und der man durchaus zutrauen und wünschen möchte, regierende Bürgermeisterin von Berlin zu werden. Oder? Seit dem raffinierten Schachzug der Grünen, der schwarz-gelben Koalition den erzkonservativen Gauck vor die Nase zu setzen, und nach dessen absehbarer Niederlage lässt sich an Renate Künasts liberalem, demokratischem Bewusstsein zweifeln. Schon ihre Meinung, dass Gauck den interessanten und für sie offensichtlich neuen Gedanken geäußert habe, nicht über eine „Freiheit von“, sondern über eine „Freiheit zu“ zu sprechen, musste all jene, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland aufs Gymnasium gingen, an Deutsch- und Sozialkundelehrer erinnern, die angesichts langer Haare und ersten rebellischen Verhaltens eben diese Floskel beschworen.

Sei’s drum – diese Zeiten sind vorbei. Viel bedenklicher war Künasts Kommentar zu Gaucks verlorener Wahl, wonach die ganze Operation gleichwohl „demokratietechnisch“ ein voller Erfolg gewesen sei. Diese Äußerung stellt vor dem Hintergrund eines Arendt’schen Politikverständnisses nicht nur eine Sünde wider den Heiligen Geist dar, sondern auch eine unfreiwillige Offenbarung von postdemokratischem Politikverständnis.

Lapsus Linguae

Im Ausdruck „demokratietechnisch“ offenbart sich ein Verständnis von Politik, das die Demokratie als eine Herrschaftsmaschine ansieht, die nur richtig zu ölen, zu bedienen und alle paar Jahre laufen zu lassen ist. Gewiss, man kann der Meinung sein, dass die verfassungsmäßig begründeten Institutionen der Demokratie etwas völlig anderes als „die Demokratie“ oder die „Idee der Demokratie“ sind – doch würde man diese Meinung nicht nur durch einen Lapsus Linguae erfahren wollen. Wenn es zutrifft, dass der breite öffentliche Zuspruch für Gauck auch Ausdruck einer verbreiteten Verdrossenheit am politischen Betrieb war, so hat Künast mit ihrer Rede vom „demokratietechnischen“ Erfolg der Wahl dieser Verdrossenheit ungewollt und womöglich gegen ihre Intentionen recht gegeben.

Es gab Zeiten, da beanspruchten die Grünen, dieser Gesellschaft radikal demokratische Impulse zu geben. Der Wahlvorschlag Gauck war das jedenfalls nicht. Im Gegensatz zum Selbstmissverständnis des Kandidaten ging es gerade nicht um eine Stärkung der Demokratie, sogar dann nicht, wenn man sie als „Freiheit zu“ versteht, sondern darum, in raffiniertem strategischen Kalkül Angela Merkel zu schwächen: „demokratietechnisch“ eben.

Micha Brumlik ist Publizist und Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main