Urknall als Unfall

KUNSTSCHÖPFUNG „Big Bang“ heißt das neue, zauberhafte Theaterprojekt von Philippe Quesne

Das Vivarium-Theater liebt die Dingbeseelung, feiert das Dilettantische und Unspektakuläre

Mit Vorliebe beglückt Philippe Quesne seine Zuschauer im Hochsommer mit bizarrer Landschaftskälte. Die Kunstschneekulisse des Publikumslieblings, „La Mélancholie des Dragons“, in dem ein paar Hardrocker die Attraktionen ihres imaginären Freizeitparks erproben, wurde in den letzten zwei Jahren auf diversen Sommerfestivals aufgebaut. Und auch sein jüngstes Projekt „Big Bang“, das er zuerst am Berliner HAU ausprobierte und das jetzt auf dem Festival d’Avignon gezeigt wird, beginnt im Eiszeit-Setting: drei Wände weiß, rechts ein kleiner Eisberg.

Der entpuppt sich als Plastikplane, unter der bald der alte Citroën zum Vorschein kommt, mit dem die Hardrocker damals im Schnee liegen blieben. Das ist eine der kuriosen Regeln von Quesnes Pariser Gruppe Vivarium Studio: Das Ende der einen Show wird zum Beginn der nächsten. Außerdem – das macht den besonderen Witz ihrer Arbeiten aus – agieren die Performer auf der Bühne stets so, als lägen sie zu Hause auf dem Sofa. Das Publikum blickt nicht auf eine perfekte Illusion, sondern in ein Laboratorium.

Das Vivarium-Theater, bei dem Schauspieler, Bildende Künstler und Musiker zusammen auf der Bühne stehen, liebt die Dingbeseelung, feiert das Dilettantische und Unspektakuläre. In „L’effet de Serge“ lädt der Sonderling Serge jeden Sonntag Gäste ein, um ihnen seinen neuesten Special Effect vorzuführen: Ein ferngesteuertes Auto fährt eine Wunderkerze spazieren, die Autolichtanlage blinkt zu Wagner-Klängen. In „La Mélancholie des Dragons“ tanzen Perücken vor der Windmaschine und blähen sich luftgefüllte Riesenplastiksäcke zu „Drachen“ auf.

Die Vivarium-Stücke haben dabei nie einen Text, sondern lediglich einen Titel zum Ausgangspunkt. In „Big Bang“ liegt die Hardrocker-Karre nun auf dem Dach – es hat „Bang!“ gemacht. Das legt jedenfalls die Comic-Szene nahe, die auf die Rückwand projiziert wird: ein Baum, ein Auto, ein Bang!

Der Urknall als Unfall. Die Schöpfung ist an die Wand gefahren. Eine Welt ploppt auf und driftet unmerklich sanft gen Katastrophe. Fellwesen schieben sich als Urorganismen zu Blubbersound durchs Weiß. Sie lernen den Aufwärtsgang, werden zu langhaarigen Steinzeitmenschen. Am rotlampigen Feuer stimmen sie Kollektivsumsang an, nehmen immer mehr Fellteile ab und Bücher zur Hand. Von der Decke sprüht ein bisschen Sintflut. Die Rückwand fährt herunter und gibt den Blick auf ein knallgrün hinterlegtes Flachwasserbassin frei – welcome to tropical island, Robinson. Der Mensch schreitet fort, er wirft sich in Astronautenschale, schichtet Rettung verheißende Schlauchboote zu einem Gummiturm zu Babel aufeinander. Im grünen Ganzkörperanzug mutiert er zum Filmdarsteller, der vorm Greenscreen nicht mehr weiß, in welchen Kontext er eigentlich hineingeschnitten wird.

Das Thema ist für Quesne Anlass zum fluiden Bilderzauber, der Bühne und Spieler in permanente Metamorphose versetzt und den Assoziationen weiten Auslauf bietet. Wie schon die Vorgänger-Arbeiten rückt auch „Big Bang“ den Kunstschöpfungsakt ins Zentrum. Permanent geht der Skizzenblock von Hand zu Hand. Der skribbelnde Dokumentar gibt den Mitspielern Anweisungen, wird zum Regisseur der Bilder. In diesem Meta-Theater verabreden sich die fellbehängten Spieler, auf Kommando auseinanderzustieben – als würden sie noch proben. In Avignon wird sich der Abend weiter verändert haben. Die ersten Aufführungen sind für Quesne stets eine Teststrecke. Und auch später bleiben die Vivarium-Stücke etwa dadurch im Fluss, dass der Regisseur die Länge der Musikeinspielungen variiert.

Quesne hat Bildende Kunst studiert und zehn Jahre als Bühnenbilder gearbeitet, bevor er 2003 seine Kompanie gründete. In der stark vom Literaturtheater geprägten französischen Szene musste sich seine Gruppe Wertschätzung und Fanpublikum hart erarbeiten. Nun ist das renommierte Festival d’Avignon zum ersten Mal auch Koproduzent – ein deutliches Zeichen für die gewachsene Anerkennung.

Christoph Marthaler, der aktuelle Artiste associé, ist erklärter Bewunderer von Philippe Quesne. Beide Künstler lieben das Spiel der Zeitzerdehnung. Groß sind diese Meister der Alltagszelebrierung vor allem, wenn sie das Kleine zum Spektakel zu machen. ANNE PETER

■ Big Bang. 19.–21., 23.–26. Juli beim Festival d’Avignon, 19.–21. August Kampnagel Hamburg