Glücklich, wie alle anderen auch

COMIC Maria und Miguel Gallardos illustrierte Erzählung „Maria und ich“ korrigiert viele Klischees über Kinder mit Autismus

Marias ungewöhnliches Auftreten verdammt sie dazu, immer wieder erboste Blicke zu ernten

VON SVEN JACHMANN

Menschen reagieren auf das, was ihnen fremd ist, in der Regel mit Angst, Ignoranz oder offenkundiger Abscheu. Dass es hierzu nicht mehr braucht, als eine geringfügig angehobene Lautstärke der Stimme und die gelegentliche Demonstration introvertierter Launen, erzählt der spanische Comiczeichner und Illustrator Miguel Gallardo in dieser liebevollen Hymne auf seine (im Jahre 2007, dem Entstehungszeitraum der Geschichte, zwölfjährige) Tochter Maria.

Maria ist Autistin, was bedeutet, dass sie in unpassenden Augenblicken ihre Forderungen besonders lautstark vertritt, geregelte Abläufe für die innere Stabilität bevorzugt, ausnahmslos in der dritten Person spricht oder die Abscheu gegenüber ihr unsympathischen Gesprächspartnern durch dezentes Kneifen unterstreicht, Zuneigung übrigens ebenso. Und es bedeutet, dass ihr ungewöhnliches Auftreten sie dazu verdammt, immer wieder von erbosten Blicken traktiert zu werden. Von denen gibt es in der autobiografischen Erzählung reichlich, in der Gallardo von den letzten Urlaubstagen der beiden während der Sommerferien im Süden von Gran Canaria berichtet.

Ihr zufriedenes Gesicht

Genau genommen ist „Maria und ich“ auch eine Schulung des Blickens. Bereits Marias erster Auftritt am Flughafen rückt sie innerhalb des Plots wie auch der Erzählökonomie ins Zentrum: Von dem hektischen Treiben hilflos überfordert, macht sie durch laute „Ceiba ist hässlich“-Rufe auf sich aufmerksam, und die Reaktionen der Fluggäste folgen prompt: „So ein schlecht erzogenes Kind!“ „Allerdings, gute Frau!“ Nur wenige Seiten später blicken auf einem ganzseitigen Panel gleich dreizehn Augen streng auf das pechschwarz gezeichnete Duo herab – ein schönes Sinnbild für die stillen Sanktionen des öffentlichen Raums, in dem die Gesetze der Normativität zwar ohne physische Gewalt, dennoch mit suggestiver Härte und insgeheimem Hass geltend gemacht werden. Aber Gallardo erzählt zugleich vom Gegengift zur erduldeten Ablehnung: Mit Humor und Selbstironie erobern sich die zwei den öffentlichen Raum ganz einfach zurück, machen sich freiwillig zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Speisesaal trägt Maria ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „I’m unique just like everyone else“. Überhaupt ist ihr stets zufriedenes Gesicht der einzig herzliche Ruhepol in der Phalanx einer meist nicht gerade entspannt dreinblickender Touristenschar.

Denn trotz des ethnologischen und sarkastischen Blicks auf das Verhalten der Urlauber ist das Buch in erster Linie Gallardos Liebeserklärung an seine Tochter, das zugleich spielerisch in die Lebenswelt Autismus einführen will. Dieses Vorhaben wird denn auch zum ästhetischen Prinzip. Formal wählt er den Mittelweg aus Comic und illustrierter Ich-Erzählung. Auf gerade mal sechs Seiten finden sich comicspezifische, eine sequentielle Lesart erfordernde Panelanordnungen, auf den restlichen ergänzen meist grobe Skizzen den handschriftlichen Fließtext.

Übernimmt ihren Blick

So wie Gallardos Zeichnungen Maria zeit ihres Lebens amüsieren, eine grundlegende Basis ihrer Kommunikation bilden und ihr außerdem als wichtige Orientierungshilfe im Alltag dienen (denn Kinder mit Autismus besitzen ein exzellentes visuelles Gedächtnis, gleichzeitig eine geringe Frustrationstoleranz, weswegen die regelmäßige Arbeit mit Piktogrammen eine für sie leichtere Strukturierung ihrer Aktivitäten ermöglicht), macht er sich also ihren Blick zueigen und lässt ihn zu jenem der Leser werden, indem er das geschriebene Wort durch Zeichnungen unterstützen, aber nicht notwendig ergänzen lässt. Auf diese Weise gerät Maria zweifach in den Mittelpunkt der Geschichte: als Figur und durch ihre Perspektive auf die Welt. Pointierter könnte man auch sagen, dass die Codierung der Geschichte Maria sowohl in narrativer als auch narratologischer Hinsicht individualisiert, ohne sie ungewollt zum Symptom ihrer Krankheit zu degradieren oder den Plot zu einem schwerfällig lesbaren Erzählexperiment ausschweifen zu lassen. Die avisierte Aufmerksamkeit hat jedenfalls gefruchtet: Dank des Buchs sind Miguel und Maria nun auch die Hauptakteure ihres eigenen Dokumentarfilms, den jüngst das spanische Fernsehen produzierte.

■ Maria & Miguel Gallardo: „Maria und ich“. Aus dem Spanischen von Isa Marin Arrizabalaga. Reprodukt, Berlin 2010, 64 Seiten, 14 €