„Klagen wir im Namen des Meeres BP an“

PHILOSOPHIE Der Kläger wäre der Golf von Mexiko: Michel Serres, französischer Wissenschaftshistoriker, Philosoph und Sohn eines Fluss- Schiffers, über die Verbindung von Natur- und Literaturwissenschaft und seine Forderung, das Meer als Rechtssubjekt anzuerkennen

■ Professor: 1930 als Sohn eines Fischers geboren, lehrt Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne in Paris und in Stanford/Kalifornien. Seit 1990 Mitglied der Académie française

■ Wichtigste Theoriefigur: der Götterbote Hermes, der als Gott des Übergangs und des Zwischenraums für die Philosophie der Relationen steht, mit der Serres eine Verbindung von Wissenschaftstheorie und Poesie versucht

■ Zuletzt auf Deutsch erschienen: „Das eigentliche Übel“ (Merve, Berlin 2009)

■ Auftritt: heute um 19 Uhr und morgen ab 12 Uhr beim Festival „Wassermusik 2010“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin . www.hkw.de

INTERVIEW GERNOT KAMECKE

taz: Michel Serres, anlässlich des Wassermusikfestivals im Haus der Kulturen werden Sie einen Vortrag mit dem Titel „Musiques et bacchanales“ halten. Worum geht es?

Michel Serres: Die Idee für die Berlinreise entstand anlässlich der deutschen Übersetzung meines Buchs „Das eigentliche Übel“, die im Merve Verlag erschienen ist. Für das Festival habe ich einen eigenen Text geschrieben, den ich, durch Bilder und Musikstücke unterbrochen und von einer Simultanübersetzung begleitet, vortragen werde. Es handelt sich zu jeweils gleichen Teilen um einen Mythos, eine Erzählung und eine philosophische Meditation. Für den mythischen Teil verwende ich die Initiation des Orpheus, bei der die Musen und eine ganze Reihe von Figuren der antiken Mythologie auftreten. Die Erzählung folgt sodann der Frage, wie Orpheus zur Musik und zur Sprache gekommen ist. Daher stellt der Text auch eine Art philosophische Meditation über den Ursprung der Sprache dar. Ich habe versucht, alle drei Aspekte zusammenzuführen.

Der Text zeichnet sich durch seinen sehr poetischen Charakter aus. In Deutschland kennt man Sie vor allem als Wissenschaftshistoriker. Wie verträgt sich die Arbeit des Historikers mit der des Schriftstellers bei Ihnen?

Ich habe immer versucht, beide Formen des Schreibens miteinander in Einklang zu bringen. Ich habe zuerst Mathematik, Physik und Biochemie studiert. Doch schon in den 1950er Jahren habe ich das Fach gewechselt und Literaturwissenschaft, Lateinisch, Griechisch und Philosophie gewählt. Seitdem verfolge ich das Ziel, Brücken zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften zu bauen. Ich habe dieser Idee mein Buch „Le Tiers-Instruit“ [etwa: „Die dritte Bildung“] gewidmet, das noch nicht auf Deutsch erschienen ist. Dritte Bildung bedeutet genau dies: einen Bildungsweg zu erfinden, der in der Mitte zwischen Wissenschaft und Literatur angesiedelt wäre. Abgesehen davon versuche ich immer, auch wenn ich als Epistemologe schreibe, einen Stil zu verwenden, der auch literarischen Ansprüchen genügt.

Sie behandeln die Geschichte der Wissenschaften, der Kulturen und der Techniken von der Antike bis heute, dazu Rechtsgeschichte, Anthropologie, Geologie, Kosmologie. Zudem arbeiten Sie in verschiedenen Bereichen der Philosophie. Haben sich im Lauf der langen Zeit Ihrer Tätigkeiten bestimmte grundlegende Fragen herauskristallisiert?

Eine meiner Leitideen beruht auf einer gewissen Treue zur Aufklärung. Zuerst kommt die Enzyklopädie, die dann eine bestimmte philosophische Reflexion ermöglicht. Ein Philosoph, der seinen Namen verdient, muss sich auf ein bestimmtes Wissen stützen können. Eine zweite Leitidee ist die Beobachtung, dass wir heute eine absolut einzigartige Epoche der Menschheitsgeschichte erleben. Um 1900 machte der Anteil der Bauern, in Deutschland wie in Frankreich, weit mehr als fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Im Jahr 2000 sind es nur noch ein bis zwei Prozent. In Anbetracht der Tatsache, dass die Menschen seit dem Neolithikum immer Bauern waren, ist dies ein absolut kapitales Ereignis. Gleiches gilt für demografisches Wachstum und Lebenserwartung. Auch die Körper der Menschen befinden sich im Wandel: Körpergröße, Schmerz, Krankheit, unsere Fähigkeit, die Geburten zu beherrschen, den Zeitpunkt des Todes hinauszuschieben. Die Menschheit hat sich erneuert, weil ihre Lebensweise eine neue ist. Nur ist diese Neuheit nicht ausreichend wahrgenommen worden.

Als Philosoph entwickeln Sie eine Theorie des Gedächtnisses. Wenn Sie sagen, dass die Menschen sich der geschilderten Neuerungen bewusst werden müssen, ist dann das Gedächtnis ein Schlüsselmoment in dieser Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seinem technisierten Leben?

Die Frage des Gedächtnisses ist in der Tat sehr wichtig. Ich behandle sie auf zwei verschiedene Weisen. Zum einen beschreibe ich die historischen Etappen der „Aufhebung“ bzw. der technischen Objektivierung des Gedächtnisses: zuerst, am Ursprung, durch die Erfindung der Schrift, dann durch die Erfindung des Buchdrucks, zu Beginn der Neuzeit, und heute noch einmal durch den Computer. Zum anderen geht es mir darum, dass die Wissenschaften, sei es Biologie, Medizin, Geologie oder Astronomie, heutzutage allesamt davon ausgehen müssen, dass jedes Objekt der Welt ein Gedächtnis hat. Wir haben den Ursprung des Universums datiert, wir haben die kosmische Hintergrundstrahlung gefunden, die vor knapp 14 Milliarden Jahren einsetzte, wir kennen das Geburtsdatum eines Sterns und sagen das Datum seines Sterbens voraus. Wir können genau sagen, wie die Erde vor vier Milliarden Jahren aussah. Und wir wissen ziemlich exakt, wann sich die ersten Einzeller geteilt haben. Warum können wir alles datieren? Weil die Objekte der Welt selbst Gedächtnisse sind. Dies ist eine wunderbare Entdeckung der heutigen Wissenschaft.

Ist diese Entdeckung zugleich die Grundlage Ihrer Theorie von den „Faltungen“ der Zeit?

Genau so ist es. Bis in die 1960er oder 1970er Jahre besaßen die Menschen in Europa einen Zeithorizont von einigen zehntausend Jahren. Heute tragen wir eine Vergangenheit von 14 Milliarden Jahren mit uns herum. Das ist der Grund, warum wir heute nicht mehr in der gleichen Welt leben und nicht mehr die gleiche Kultur besitzen, wie wir es noch vor 40 Jahren taten. Schon allein die Entdeckung, dass der Homo sapiens in Afrika geboren wurde und von Afrika aus die Welt bevölkert hat, zeigt, dass unsere Weise, das menschliche Abenteuer zu betrachten, eine vollkommen andere ist als zu Zeiten unserer Eltern. Unser kultureller und zeitlicher Horizont ist auf fantastische Weise nach hinten gerückt. Auch unsere Kinder werden nicht die gleiche Welt und die gleiche Zeit haben wie wir. Die historische Zeit ist dabei nur ein kleines Fragment einer enormen Zeitlichkeit, die uns vorangeht.

Zuletzt haben Sie sich mit Ihrem Buch „Das eigentliche Übel“ der Politik zugewendet. Wir würden Sie die zentrale Idee Ihres Anliegens beschreiben?

Genau genommen handelt es sich um eine rechtspolitische Frage. In meinem Buch „Le contrat naturel“ [„Der Naturvertrag“] habe ich die Möglichkeit untersucht, wie bestimmte Objekte der Natur, etwa das Meer, zu Subjekten des Rechts werden. Das hat seinerzeit natürlich zu den erwartbaren Protestschreien geführt. Heute wird dies etwas besser verstanden. In Anbetracht des aktuellen Desasters am Golf von Mexiko würde ich mir nichts dringlicher wünschen als einen Prozess vor einem internationalen Gericht, in dem BP im Namen des Meeres angeklagt wird. Hier hätte es einen ganz konkreten Sinn, wenn das Naturobjekt ein Rechtsubjekt wäre. In „Das eigentliche Übel“, das auch den Versuch eines Rechtstraktats darstellt, stelle ich die Frage, warum wir unsere Umwelt verschmutzen. Man stellt immer die Frage, wie wir die Umwelt verschmutzen, aber nie, warum. Ich gehe von einer Analyse des Verhaltens der Tiere aus, die durch Ausscheidungen die Grenzen ihrer Nischen markieren, und begründe darauf eine Theorie des Eigentumsrechts. Das zentrale Axiom beruht auf der Doppeldeutigkeit des Begriffs propriété (Eigentum/Sauberkeit) und lässt sich vermutlich kaum ins Deutsche übertragen: Le propre, c’est le sale (ungefähr: Das Eigene ist das Verschmutzte). Etwas zu verschmutzen, bedeutet, sich etwas anzueignen, etwas in Besitz zu nehmen. Auf die Katastrophe am Golf von Mexiko angewendet, könnte man sagen: BP ist durch den Akt der Verschmutzung gerade dabei, den Golf von Mexiko in Besitz zu nehmen.

Die Anwälte von BP würden vor Gericht wahrscheinlich argumentieren, dass es sich um einen Unfall handelt. Die „Aneignung“ in Ihrem Sinne wäre nicht vorsätzlich geschehen.

Der Begriff des Unfalls wäre hier genauer zu analysieren. Wenn sie das Risiko eingehen, in so großer Tiefe unter der Meeresoberfläche nach Öl zu bohren, dann nehmen sie auch das Risiko solcher Unfälle in Kauf. Genau aus diesem Grund behaupte ich, dass es eine internationale beziehungsweise interkontinentale Verfassung geben müsste, in der auch die Elemente der Natur vertreten sind. Mein Vorschlag für den Namen dieser Verfassung lautet WAFEL [Water-Air-Fire-Earth-Living]. Auf der Grundlage einer solchen Verfassung ließe sich ein Gericht einberufen, eine juridische Instanz, ähnlich dem bestehenden Internationalen Strafgerichtshof, die im Namen des betroffenen Elements gegen solche Unfälle beziehungsweise Anschläge auf den Planeten vorgehen könnte. Der Kläger wäre in diesem Fall der Golf von Mexiko. Er würde sich auf ein Naturrecht stützen, das ganz wie das heutige Menschenrecht ein Grundrecht wäre. Dafür bräuchte es nur einen Vertrag, einen allgemeinen Waffenstillstand in diesem Krieg, den wir gegen den Planten führen.