KOMPLEXE URTEILSBILDUNG – NEUE STUDIEN ZUM NAHOSTKONFLIKT
: Distanz zum Engagement

MICHA BRUMLIK

GOTT UND DIE WELT

Der Versuch eines türkischen Schiffes, die israelische Blockade Gazas zu durchbrechen – was den Tod von neun Aktivisten durch verunsicherte israelische Soldaten zur Folge hatte –, löste eine beispiellose diplomatische Krise aus. Auch in Deutschland belebte sich aufs Neue die Debatte um die Haltung zur Politik israelischer Regierungen.

Das ging so weit, dass der deutsche Bundestag eine von allen im Parlament vertretenen Parteien getragene Resolution verabschiedete. Sie bestätigte zwar einerseits Existenzrecht und Sicherheitsbelange Israels, sprach sich aber andererseits ebenso unmissverständlich für die Aufhebung der Blockade Gazas aus. Im gleichen Zug führt die Zivilgesellschaft die Debatte fort. Es befehden sich „Antideutsche“ beziehungsweise „Antiimperialisten“ – die einen sind für eine bedingungslose Solidarität mit der israelischen Politik, die anderen für eine bedingte Solidarität auch mit radikalen Islamisten. Der Nahostkonflikt wird also mit Sicherheit auch im Herbst wieder die außenpolitischen Debatten der Zivilgesellschaft und der Linken bewegen, weswegen es geboten ist, an die Stelle bloßer Meinung und erregter Emotionen Sachkenntnis und nüchterne Urteile zu setzen.

Drei Bücher informieren nicht nur über den Stand der Diskussion, sondern auch über die dahinterliegenden Sachverhalte – vom Persischen, oder wenn man so will: Arabischen, Golf über Israel und das Westjordanland bis nach Deutschland. Der eben erschienene, von Stephan Grigat und Simone Dinah Hartmann herausgegebene Sammelband über den heutigen „Iran im Weltsystem“ behandelt in einer Reihe exzellent recherchierter Beiträge die innenpolitischen, außenpolitischen, ökonomischen und auch ideologischen Aspekte einer abenteuerlichen Schwellenmacht, die – abgesehen von ihrer virtuellen Fähigkeit, eine Atombombe zu bauen – trotz ihrer natürlichen Reichtümer ein armes Drittweltland ist. Der Iran wird noch Jahre brauchen, bis er etwa den Status von Brasilien oder Südafrika erreicht haben wird.

Autoren und Herausgeber lassen keinen Zweifel daran, dass das Land in seiner heutigen Verfassung ein Risiko nicht nur für Israel und die Sicherheitslage in der Region, sondern sogar für den Weltfrieden insgesamt darstellt. Die Autoren entfalten diese Meinung freilich so differenziert und wohlbegründet, dass man sich ihren Urteilen nicht entziehen kann. Israel ist zwar Ziel, aber weder Ursache noch Anlass der iranischen Rüstung. Tatsache ist, dass schon Ajatollah Chomeini, als er schließlich gegen seine Überzeugung der atomaren Aufrüstung grundsätzlich zustimmte, den Al-Kuds-Tag schuf, dessen Parole nicht zuletzt lautete: „Der Weg nach Jerusalem führt über Kerbela“, das bekanntlich im Irak liegt. Das Abenteurertum des islamofaschistischen Regimes in Teheran ändert freilich nichts daran, dass ein Gutteil der israelischen Politik, speziell der Siedlungspolitik im Westjordanland, dem Stil nach ebenso abenteuerlich und verantwortungslos ist.

Über die Siedler, ihre Politik und ihren Einfluss, mehr: ihre Macht, wird hierzulande mehr geklagt als gewusst. Das gleicht Steffen Hagemanns Studie zur israelischen Siedlerbewegung aus. „Die Siedlerbewegung: Fundamentalismus in Israel“ (2010) ist eine ideologie- und mentalitätsgeschichtliche Studie, die schließlich in eine politische Soziologie des heutigen Israel mündet. Sie klärt über das wechselseitige Verhältnis weltanschaulicher, fundamentalistischer Interessen und strategischer Optionen ebenso auf wie über den strukturellen Wandel im doch sehr militarisierten israelischen Regierungssystem im Lauf der letzten 40 Jahre. Hagemann begründet ernsthafte Zweifel, ob die „politisch korrekte“, allseits beschworene Zwei-Staaten-Lösung überhaupt noch Wirklichkeit werden kann.

Objektives Bewusstsein

Bei alledem ist es für die hiesige Debatte unerlässlich, sich des eigenen Standpunkts zu versichern. Da es aufgrund der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit hierzulande unmöglich ist, „objektiv“, also ohne Projektionen über den Nahostkonflikt zu urteilen, darf man für jeden Versuch dankbar sein, dieser Objektivität im Bewusstsein eigener Befangenheit so weit wie möglich nahezukommen.

Dazu bedarf es freilich der Bereitschaft, einen Schritt zurückzutreten und das eigene Engagement aus einer künstlich, aber nichtsdestoweniger begründet hergestellten Distanz zu betrachten und damit die eigene Reflexionsfähigkeit zu steigern. Dem genügt in vorzüglicher Weise Peter Ullrichs diskursanalytische, noch viel zu wenig beachtete Untersuchung der linken Nahostdiskurse in Deutschland und Großbritannien („Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, 2008). Nach der Lektüre dieses sehr flüssig geschriebenen und gleichwohl in seiner wissenschaftlichen Akribie kompromisslosen Buches wird man sich der überwältigenden emotionalen Kraft der eigenen Überzeugungen nicht mehr so sicher sein. Der Autor weist überzeugend nach, wie sehr das je eigene Engagement standortgebunden und von übergreifenden politisch-kulturellen Kontexten abhängig ist.

Die Erkenntnis von und die Einsicht in historisch vermittelte mentale Abhängigkeiten jedoch kann als weiterer Schritt auf dem Wege zu autonom begründeten politischen Urteilen und einem verantwortungsbewussten Engagement führen. Dem dienen die hier empfohlenen Bücher – auch gerade dann, wenn sie eine einfache, widerspruchsfreie Urteilsbildung zunächst zu erschweren scheinen.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main