Buchrezension "Geschichte der Tränen": Leiseste Ströme des Denkens

Alan Pauls schmaler Roman "Geschichte der Tränen" erzählt wunderbar nuanciert von einer Kindheit im Argentinien der 1960er und 1970er Jahre.

Buchcover (Ausschitt) der "Geschichte der Tränen". Bild: klett-cotta

An der Figur des engagierten Intellektuellen kam im Lateinamerika der sechziger und siebziger Jahre niemand vorbei. Soziale Gerechtigkeit und demokratische Verhältnisse kannte kaum ein Land des Kontinents. Umso näher lag es, dass Schriftsteller, Künstler und Philosophen versuchten, in die Zeitläufte einzugreifen.

Die Aporien dieser Position - wie etwa bewahrt man sich die Freiheit des Denkens und Zweifelns, wenn man sich einer militanten Bewegung anschließt und in den Untergrund geht? - rückten dabei in den Hintergrund. Der argentinische Journalist und Autor Rodolfo Walsh, 1977 von Soldaten auf offener Straße ermordet, schrieb 1969 in einem Aufruf zum 1. Mai: "Ein Intellektueller, der nicht versteht, was in seiner Zeit und in seinem Land vorgeht, ist ein wandelnder Widerspruch. Und derjenige, der versteht, aber nicht handelt, findet seinen Platz nicht in der lebendigen Geschichte seines Landes, sondern in der Anthologie der Tränen." Das hieß: in der Melancholie, der Bedeutungslosigkeit, im Abseits seiner Gegenwart.

Der argentinische Schriftsteller Alan Pauls kam 1959 zur Welt, ein paar Jahre zu spät, um sich demselben Kampf zu verschreiben wie Walsh. Einen Platz in der Anthologie der Tränen nimmt er also schon wegen seines Geburtsjahrs ein, aber er tut dies nicht verschämt, sondern bereitwillig, ja selbstbewusst. "Historia del llanto", "Geschichte der Tränen", nennt er einen schmalen Roman, der eine Kindheit im Buenos Aires der sechziger und siebziger Jahre nachzeichnet, und er wird mit dieser Titelwahl an Walsh gedacht haben. Denn die These, sich zu engagieren sei oberstes Gebot für jeden Intellektuellen, spukt durch den gesamten Text, ohne dass Pauls sie bekräftigte. Vielmehr lässt er sie in dem Maße in ihre Einzelteile zerfallen, wie er sie mit dem kindlichen Empfinden des namenlos bleibenden Protagonisten konfrontiert.

Dieser Protagonist ist ungefähr so alt wie der Autor. Seine Eltern trennen sich, als er drei Jahre alt ist, seine Mutter zieht mit ihm zurück in die Wohnung ihrer Eltern, der Vater verbringt die Wochenenden mit ihm. Schon als vier Jahre alter Bub kommt er in der Wohnung eines Nachbarn dem Untergrundkampf sehr nah, näher als jemals zuvor und danach, doch davon ahnt er nichts, und auch der Roman lässt es lange im Ungefähren.

Ein paar Jahre später hat er ein Schlüsselerlebnis, als er an der Seite seines Vaters das Konzert eines Protestsängers besucht, der gerade aus dem Exil in Spanien zurückgekehrt ist. Der Liedermacher verbindet die gefühlige Rhetorik der neuen Innerlichkeit mit der Selbstinszenierung als Stimme des Volkes. "Komm, erzähl mal, sag schon / was dir alles grade widerfährt / Deine Seele weint, wenn sie allein ist / Man muss alles rauslassen", singt er. Der Protagonist hält es kaum aus: "Er versteht alles. Es ist vermutlich das größte politische Ereignis seines Lebens: Was ihm die Wahrheit des Anliegens enthüllt, für das er sich schon immer eingesetzt hat, ist zugleich und für immer das, wobei sich ihm am heftigsten der Magen umdreht. Er nennt das fortan den Ekel."

Als Teenager liest er die einschlägigen linken Theorien, er sympathisiert mit der ERP, der Revolutionären Volksarmee, und mit der Stadtguerilla der Montoneros. Gebannt ist er von deren Taten, doch zugleich unfähig, selbst zu handeln, unfähig, im Walshschen Sinne Genosse seiner Zeit zu werden.

Im Original erschien "Geschichte der Tränen" 2007, drei Jahre nachdem Pauls "Die Vergangenheit" (dt. 2009), die an Wechselfällen reiche éducation sentimentale einer männlichen Hauptfigur namens Rímini, veröffentlicht hatte. "Geschichte der Tränen" führt aus, was in "Die Vergangenheit" eine Lücke bildete, nämlich das Verhältnis der Hauptfigur zur politischen Lage in Argentinien. Die war aus der Schilderung von Ríminis Vita auf so offensichtliche Weise ausgeklammert, dass sie eine Art anwesendes Abwesendes bildete.

Im neuen Buch ist sie präsent, wenn auch nicht so, dass sie geordnet dargelegt würde. Ein wenig Vorwissen schadet nicht, um sich in "Geschichte der Tränen" zurechtzufinden: Die Zeit vor dem Putsch 1976 war instabil, ein Präsident folgte auf den nächsten, Hoffnungen auf demokratischen Aufbruch wurden vom Militär mehrmals erstickt, soziale Unruhen waren an der Tagesordnung, der Terror der rechten Alianza Anticomunista Argentina bildete den Auftakt zu den Entführungen, Folterungen und Morden, mit denen das Regime von General Videla seine Gegner auszulöschen versuchte.

Das Kind erfasst nur Bruchstücke von all dem, und Pauls bleibt dieser Wahrnehmung verhaftet. Die Empfindsamkeit dieses Kindes ist groß, und nicht minder groß ist die Fähigkeit des Autors, Empfindungen in Sprache zu übersetzen. Deshalb gelingt ihm, was der Liedermacher verfehlt. Jenseits aller Gefühligkeit schafft Pauls einen Raum für die Introspektion. Seine langen, schweifenden, verschachtelten Sätze bringen noch die kleinsten Regungen, die leisesten Ströme des Denkens und Fühlens zum Vorschein. "Geschichte der Tränen" ist die dichte Beschreibung einer Bewusstseinsbildung.

Als Kind liebt der Protagonist den Comic-Helden Supermann so sehr, dass er sich einmal fast vom Balkon stürzt. Denn er glaubt, das blaue Kostüm, das er sich angelegt hat, gebe ihm die Kraft zu fliegen. Als Teenager wiederum muss er lernen, "wie wenig sich Supermann, der Mann aus Stahl, den er immer vergöttert hat, den er noch immer vergöttert, in jenem leicht anachronistischen Zweitleben nämlich, das parallel zu dem Leben verläuft, in dem er sich die Augen an lateinamerikanischer Theorie verdirbt, mit diesem Leben in Einklang bringen lässt, ja einer seiner ärgsten Feinde ist, ein verkleideter Feind".

Die Weltenretter und engagierten Intellektuellen, die in Buenos Aires von der Revolution träumen, verabscheuen den Weltenretter, den die US-amerikanische Kulturindustrie ins Rennen schickt. Wie es sich anfühlt, wenn man zwischen die Fronten gerät, führt "Geschichte der Tränen" auf wunderbar nuancierte Weise aus.

Alan Pauls: "Geschichte der Tränen", aus dem Spanischen von Christian Hansen, Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 143 Seiten, 17,95 Euro

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