„Sie wussten, er wird kommen“

WIESENTHAL Tom Segevs neue Biografie von Simon Wiesenthal zeigt, wie der KZ-Überlebende Naziverbrecher vor Gericht brachte und den Holocaust zum universellen Symbol machte

■ Der Historiker Tom Segev, am 1. März 1945 in Jersualem geboren, ist mit einigen Studien zur Geschichte Israels und des Nahostkonflikts bekannt geworden. Nun legt er die bisher umfangreichste Biografie Simon Wiesenthals vor. Segev konnte sich dabei auf neue Quellen stützen.

INTERVIEW ULRICH GUTMAIR

taz: Herr Segev, was fasziniert Sie an Simon Wiesenthal?

Tom Segev: Simon Wiesenthal war ein einsamer Kämpfer für Gerechtigkeit. Er stand allein dem ultimativen Unrecht gegenüber. Wiesenthal war heroisch, tapfer, ein Humanist – und immer ein bisschen mysteriös. Als er gestorben war und sich die Gelegenheit ergab, dass mir sein gesamtes Archiv offen stehen würde, dachte ich, das würde ich gerne machen.

Seine Biografie ist auch eine Geschichte des Desinteresses an der Verfolgung der Naziverbrechen nach dem Krieg. Wäre deren juristische Aufarbeitung ohne die Arbeit Wiesenthals eine andere gewesen?

Sie wäre vielleicht gar nicht passiert. Schon in den fünfziger Jahren waren einzelne Länder aus unterschiedlichen Gründen gar nicht mehr interessiert an der Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Deutschland und Österreich waren es ganz sicher nicht. Und wegen des Kalten Kriegs haben die USA die Deutschen als Verbündete gewinnen wollen. Sie haben den Deutschen auch deshalb erlaubt, die NS-Verbrecher nicht allzu streng zu verfolgen. Israel war ein Land, das zukunftsorientiert war und sich weniger für alte Nazis interessiert hat als für Gefahren, die in der Gegenwart lagen. Daher war Wiesenthal eine einsame Stimme. Er war sicher nicht ganz allein, aber doch derjenige, der mehr als jeder andere getan hat, die Botschaft zu vermitteln: Wenn wir nicht alles tun, um die NS-Verbrecher vor Gericht zu stellen, vergessen wir den Holocaust. Und wenn wir den Holocaust vergessen, ist die ganze Menschheit fürchterlichen Gefahren ausgesetzt.

Wiesenthal ist nie davon ausgegangen, dass der Holocaust ein Verbrechen allein gegen das jüdische Volk war, sondern eins gegen die Menschheit, auch gegen die Deutschen selbst, wie Sie schreiben. Er hat sich allen Opfern verpflichtet gefühlt und sich unter anderem für die verfolgten Sinti und Roma eingesetzt. War er seiner Zeit voraus?

Er war darin sicher nicht der Einzige. Aber Wiesenthal hat sich viele Feinde gemacht, zum Beispiel, als er einmal sinngemäß sagte: „Wenn ich ein hungriges Kind in Kambodscha sehe, dann sehe ich den kleinen Jungen, der die Hände hebt im Warschauer Ghetto.“ Das ist etwas, was man seitens des Erinnerungsestablishments in Amerika und Israel immer noch nicht hören mag. Man meint, wenn jemand an der Einzigartigkeit des Holocaust rüttelt, dann ist er gleich ein Holocaustleugner. Aber so ist es nicht. Am Ende hat sich Wiesenthals Auffassung durchgesetzt. Der Holocaust ist heute der Kode für das ultimative Böse auch in Ländern, wo die Leute noch nie einen Juden gesehen haben. Der Holocaust ist zu einem universalen Kode, zu einem Symbol geworden, und daran hat Wiesenthal stark mitgewirkt. In Israel wird heute darüber diskutiert, welche Lehren man daraus ziehen soll – ob es eher nationale oder eher universale sind. Das ist natürlich auch eine politische Frage.

Gerade indem der Holocaust zur universalen Chiffre für Genozide geworden ist, wird er als einzigartig verstanden?

Er ist einzigartig, aber eben nicht als einzigartiges Verbrechen nur gegen die Juden, sondern gegen die Menschheit. Die Wichtigkeit liegt für mich darin, dass Wiesenthal erkannt hat, dass Völkermord und Kriegsverbrechen nicht mit dem Zweiten Weltkrieg vorbei waren. Es gab noch weitere Völkermorde. Und ich glaube, es war ihm deshalb so wichtig, dass die Verbrechen weiter verfolgt werden. Man kann sich fragen: Was wollen wir noch mit dem alten Demjanjuk, der auf der Bahre liegt? Die Antwort ist, dass jeder Soldat, jeder Mensch in Uniform überall auf der Welt wissen muss, dass es bestimmte Befehle gibt, die er nicht ausführen darf. In Israel ist das sogar gesetzlich festgehalten. Es gibt ein Konzept des ungesetzlichen Befehls. Und wenn jemand einen solchen ungesetzlichen Befehl trotzdem ausführt, kann es ihm passieren, dass er auch noch nach 60 Jahren vor Gericht gestellt wird. Darin liegt die Bedeutung dieser Prozesse und die Bedeutung von Wiesenthals Auffassung. Denn irgendwann werden auch die letzten Holocaustüberlebenden gestorben sein. Nazis gibt es schon heute kaum mehr. Dann fragt man sich: Wozu brauchen wir noch die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen? Die Antwortet lautet mit Wiesenthal: weil die Menschheit noch nicht genug gelernt hat vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.

Wiesenthal war selbst eher skeptisch, was seine Erfolge anging: „Die Nazis haben den Krieg verloren, wir haben die Nachkriegszeit verloren.“

Er lebte von Enttäuschung zu Enttäuschung. Er hatte viele Gegner, auch jüdische. Viele fragten: Wie viele Nazis hat er denn überhaupt vor Gericht gebracht?

Gute Frage.

Das ist eine gute Frage, aber man kann sie nicht beantworten. Denn wonach fragen wir eigentlich: Wie viele Naziverbrecher hat er identifiziert, wie viele hat er gefunden, wie viele wurden verhaftet, wie viele wurden vor Gericht gestellt, wie viele wurden dann begnadigt? Was zählen wir? Wiesenthal hatte in seinem Büro Tausende von Akten, Tausende von Namen haben ihn beschäftigt. Und die NS-Verbrecher wussten, dass es einen Mann wie Wiesenthal gibt. Es gab berühmte Nazis wie Franz Stangl – und Adolf Eichmann, glaube ich auch –, die nach ihrer Ergreifung erzählt haben: Wir wussten, eines Tages kommt der Wiesenthal. Auch Wiesenthal selbst hat sich manchmal gesagt: Wenigstens schlafen sie nicht gut. Viel wichtiger aber war, dass Wiesenthal eine moralische Autorität geworden war. Deshalb konnten es sich die einzelnen Länder nicht mehr leisten, die Augen zuzumachen und so zu tun, als ob alles in Ordnung sei. Nein, es ist nicht in Ordnung, sagte Wiesenthal.

Sie schreiben, dass Wiesenthal mit dem Mossad zusammengearbeitet hat.

■ Simon Wiesenthal wurde am 31. Dezember 1908 in Buczacz, Ostgalizien, geboren, das zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte. Als er 2005 in Wien starb, galt er als wandelndes Gewissen der Weltöffentlichkeit. Er hatte mehrere Konzentrationslager durchlaufen. Als die Amerikaner Mauthausen befreiten, machte Wiesenthal sich an die Arbeit: Er stellte eine Liste mit NS-Verbrechern zusammen und gründete sein Dokumentationszentrum.

■ Tom Segev beschreibt Wiesenthal als einen Humanisten, der an die Vernunft glaubt und dessen Motto „Recht, nicht Rache“ ist. Wiesenthal setzte sich für Sinti und Roma, Homosexuelle und Zeugen Jehovas ein, die vom NS-Regime verfolgt worden waren, und klagte gegenwärtige Verbrechen gegen die Menschheit an. Der Österreicher genoss die mediale Aufmerksamkeit, die seiner Person entgegengebracht wurde, und spannte die Presse ein, um NS-Verbrecher aufzuspüren.

■ „Simon Wiesenthal. Die Biographie“ ist im Siedler Verlag erschienen, umfasst 576 Seiten und kostet 29,95 Euro. Lesungen mit Tom Segev: 12. 9. Hamburg, Harbour Front Festival; 13. 9. Berlin, Akademie der Konrad Adenauer Stiftung; 14. 9. München, Literaturhaus; 15. 9. Wien, Jüdisches Museum. (gut)

Österreichische Journalisten haben mich gefragt: War das denn legal? War er vielleicht ein ausländischer Spion? Na ja, sie sollen dankbar sein. Sie haben es überhaupt nicht verdient, dass es so einen Wiesenthal gab in Österreich. Sie sollen dankbar sein, dass jemand ihnen geholfen hat, in ihrer Gesellschaft sauber zu machen. Und wenn es dieser Person gelungen ist, zu diesem Zweck auch eine Organisation wie den israelischen Geheimdienst einzuspannen, dann sollen sie umso dankbarer sein. Die Österreicher haben Wiesenthal nicht geholfen, der Mossad dagegen hat ihn unterstützt. Und es wurde immer in Wiesenthals Sinn verfahren: Es ging nicht darum, NS-Verbrecher heimlich an einer Straßenecke zu erschießen, sondern darum, sie vor Gericht zu bringen. Der Mossad hat sich als Institution gezeigt, die das österreichische Gesetz akzeptiert. Er hat dazu beigetragen, dass diese Verbrecher vor österreichische Gerichte kamen.

Ihr Buch beschreibt auch die langjährige und heftige Fehde zwischen Kreisky und Wiesenthal. Stehen Wiesenthal und der sozialdemokratische österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky für zwei typische jüdische Positionen in der Diaspora?

Man kann das ganz genau so sehen: Die eine Position ist eine assimilatorische. Da versucht einer, völlig in seinem Österreichischsein aufzugehen. Das ist Bruno Kreisky. Kreisky will ein richtiger Österreicher sein, und Wiesenthal bedroht Kreiskys Identität allein durch seine Präsenz: Weil Wiesenthal so spricht und so aussieht, weil er so handelt und sich so fühlt wie ein Jude aus dem Osten. Wiesenthal sah so aus, wie das jüdische Stereotyp nahelegt, und er sprach mit einem jiddischen Akzent. Kreisky hatte einen jüdischen Komplex. Er reagierte irrational auf alles, was mit Judentum und mit Israel zu tun hatte. Ich habe mit einem halben Lächeln geschrieben, dass Wien zu klein war für zwei so überlebensgroße Juden. Beide symbolisierten etwas: Wiesenthal symbolisiert die zionistische Auffassung des Juden – und Kreisky eben das Gegenteil. Aber Kreisky hat Wiesenthal ungeheuer Unrecht getan. Ich habe die Erlaubnis bekommen, zum ersten Mal die Dokumentation zu sehen, die Kreisky auf dem Schreibtisch liegen hatte, als er behauptete, Wiesenthal sei bei der Gestapo gewesen. Ich habe versucht herauszufinden, worauf dieser Vorwurf beruhte – es waren alle möglichen Denunziationen aus Südamerika, von alten Nazis vorgebracht. Man kann sich für Kreisky nur schämen, dass er diese Vorwürfe nicht gleich in den Papierkorb geworfen, sondern zu seinen Akten gelegt hat.

Nachdem er 1945 aus dem Konzentrationslager Mauthausen befreit worden ist, blieb Wiesenthal mit Frau und Kind in Österreich. Warum?

Wenn man ihn gefragt hat, warum er nicht in Israel lebt, dann hat er immer ausweichend, halb im Scherz geantwortet: Weil es in Israel nicht genügend Nazis gibt, um ein Büro zu führen. In Wirklichkeit hat er sich in Österreich zu Hause gefühlt. Das ist ein bisschen schwer zu verstehen – ich verstehe auch nur schwer, warum sich Juden heute in Deutschland zu Hause fühlen. Aber es ist wahrscheinlich so gewesen, dass er alles, was er getan hat, als österreichischer Patriot getan hat. Er ist ja aufgewachsen in einem kleinen Städtchen, das zur Donaumonarchie gehörte. Sein ganzes Leben lang war Wien seine kulturelle und politische Hauptstadt. Aber dennoch hat Österreich es ihm schwer gemacht.