Heimat ist ein Privileg

MIGRANTINNEN Petra Schechter wurde in Berlin geboren. Als Zehnjährige zog sie mit ihrer Mutter vom Kurfürstendamm ins Westjordanland. Heute lebt sie wieder in Berlin. Schechter ist eine von 13 jüdischen Frauen, deren Geschichten jetzt eine Ausstellung im Centrum Judaicum erzählt

Das Rastlose und Entwurzelte ist ein Grundgefühl ihres Lebens geblieben

VON ESTHER SLEVOGT

Der Umzug kam einem Kulturschock gleich. Für die damals zehnjährige Petra Schechter bedeutete er, das quirlige Leben am Kurfürstendamm gegen eine Außenseiterexistenz in den Betonsilos einer jüdischen Siedlung im Westjordanland einzutauschen. Ihre Mutter zog 1979, nach der Trennung vom Vater, aus Westberlin nach Kirjat Arba, weil sie sich die Mieten in Jerusalem als alleinerziehende Mutter nicht leisten konnte. Die Siedlung war 1970, drei Jahre nach dem Sechstagekrieg, auf dem Gelände eines verlassenen Militärstützpunkts gegründet worden. Zuvor hatte das Gebiet zu Jordanien gehört.

Jeden Morgen fährt Petra Schechter jetzt mit einem Schulbus durch besetztes Gebiet nach Jerusalem zur Schule, statt von der Marburger- in die Knesebeckstrasse am Kurfürstendamm. Nicht selten fliegen unterwegs Steine an die Fenster. In der Schule wird sie von manchen Kindern als „Nazifrau“ beschimpft, sie, die in Deutschland immer die Jüdin gewesen war. Heute seien diese Jahre ein schwarzes Loch für sie, sagt Petra Schechter, längst nach Deutschland zurückgekehrt. Doch das Rastlose, Entwurzelte ist ein Grundgefühl ihres Lebens geblieben. Das einzig Gute an Kirjat Arba sei aus heutiger Sicht, dass sie in ihrer Verstörung das Singen begonnen habe: Soul, internationale Schlager. Daraus sei dann später ihr Beruf entstanden: Sängerin, Stimmtrainerin, Vokalistin.

Zu hören sind Splitter dieser Geschichte im Rahmen einer Videoinstallation, die zurzeit im Centrum Judaicum zu sehen ist: „One Room of Memories“ hat die Künstlerin Ruth Kuperman ihr Projekt genannt, für das sie zwölf jüdische Frauen unterschiedlicher Generationen und Geburtsländer in einem Raum versammelt hat. Erfahrungen von Migration und Verfolgung zu verschiedenen Zeiten werden hier zu einem Ganzen versponnen, das es kaum ermöglicht, den einzelnen Frauen und ihren Erfahrungen näher zu kommen. „Trotzdem habe ich die Teilnahme an diesem Projekt als große Inspiration empfunden“, sagt Petra Schechter, „als neuen Anstoß, schwierige Erfahrungen in Produktivität umzuwandeln.“

Der Vater kehrt zurück

Ihr Vater Harry Schechter war 1934 als Zwanzigjähriger vor den Nazis aus Dresden ins damalige Palästina geflüchtet. Dort hatte er sich eine Karriere als Saxofonist und Schlagzeuger aufgebaut. Als er 1968 zu einem Besuch nach Deutschland kommt, ist er positiv überrascht über die aufbegehrende Jugend und beschließt zurückzukehren. In Berlin macht er als Musiker am Theater des Westens noch einmal Karriere, spielt in Big Bands auch für Größen wie Frank Sinatra und Marlene Dietrich.

Damals ist Harry Schechter schon Mitte fünfzig. Mitgebracht hat er eine schwangere Frau Anfang zwanzig, die kurz darauf Tochter Petra zur Welt bringen wird. Doch weil Claudine Schechter selbst keine deutschen Wurzeln hat, bleibt Berlin ihr fremd. So kommt es, dass das gewaltsame Entwurzelt- und Vertriebensein des Vaters Defizite und Verletzungen auch in der nächsten Generation verursacht.

Einen Begriff von so etwas wie Heimat und Identität mit auf den Weg zu bekommen, ist eine Sache für Privilegierte. Das ist ein Befund, dem sich die Videoinstallation jedoch entzieht, weil sie die Erfahrungen ihrer Protagonistinnen als Dekoration verwendet. Die so unterschiedlichen Geschichten werden zu einem atmosphärischen Raunen verschmolzen, manchmal auch auf kitschverdächtige Momente reduziert. Eine alte Dame berichtet etwa, wie sie einst als Kind ihre Puppe über Bord des Auswandererschiffs warf, damit sie einmal im Meer schwimmen können sollte. Natürlich versank die Puppe. Sonst erfährt man nichts über die Frau, die da spricht.

Stattdessen gleitet die Kamera über eine Puppe, die auf dem Boden drapiert ist. Immer wieder sind die Stimmen übereinandergeschnitten. Man sieht in die Gesichter, die auf den drei Leinwänden um Artikulation ringen, hört aber nur ein unverständliches Geschnatter und Gemurmel, als wäre alles eins. Ist es aber nicht.

Petra Schechter ist Sängerin geworden. Sie hat in Partybands gesungen, mit zwei Männern zwei Söhne bekommen und nun begonnen, ihre eigenen Songs zu schreiben und zu spielen. „Vielleicht komme ich ja langsam irgendwo an“, sagt sie lachend und schaut hinter einer Cappuccinotasse bei einem Italiener gegenüber ihrer Wohnung im Berliner Wedding hervor.

Vielleicht muss sie aber erst noch die Sache mit ihrem Vater klären, von dem sie als Teenager erfuhr, dass er vielleicht überhaupt nicht ihr leiblicher Vater ist. Doch Harry Schechter ist vor zehn Jahren gestorben. Von dem Mann, der möglicherweise ihr richtiger Vater ist, ist nur ein Künstlername bekannt. Jetzt will Petra Schechter ihn suchen und über diese Suche einen Dokumentarfilm drehen. „Ich muss doch wissen, wo meine Wurzeln sind.“

■ Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28/30. Bis 30. September www.cjudaicum.de