Kontrolle allein tut’s auch nicht

SIXTIES Ein kiffender Hippie-Detektiv ist der Held von Thomas Pynchons neuem Roman „Natürliche Mängel“

Pynchon zeigt, wie die revolutionären Sixties einen neuen Typus Mensch hervorbringen

VON ULRICH GUTMAIR

Gute Menschen werden jeden Tag gekauft und verkauft. Da kann ich genauso gut ab und zu mal jemand Bösem trauen, das ist genauso sinnvoll oder sinnlos. Darauf wetten würde ich so oder so nicht“, sagt Doc Sportello. Er ist die Hauptfigur des neuen Romans von Thomas Pynchon.

Wir schreiben das Jahr 1970. Die zukunftsfrohen revolutionären Sixties versinken schon in Dunkelheit. Blumenkinder verfallen dem Heroin. Surfer arbeiten als Spitzel für das FBI. Ein Hippiefaschist namens Charles Manson hat eben die schwangere Sharon Tate ermorden lassen. Der alternde Schauspieler Ronald Reagan beginnt als kalifornischer Gouverneur eine glänzende zweite Karriere. In dieser Welt bewegt sich Doc Sportello, ein stets bekiffter Hippie-Privatdetektiv, der seine Dienste im kalifornischen Gordita Beach anbietet. Das ist ein fiktiver Ort, der im wirklichen Leben Manhattan Beach heißt. Dort lebte Pynchon, als er seinen großen Roman „Gravity’s Rainbow“ schrieb.

Freaks und Hipster

Doc Sportello ist auf der Spur seiner Exfreundin, die nun mit einem schillernden Immobilienhai namens Mickey Wolfmann zusammen ist. Der kommt auf den Trip, sein böses Leben gegen ein besseres zu tauschen und fürderhin Wohnraum für alle zu bauen. Daraufhin verschwindet er mitsamt seiner Geliebten. Verschiedene Männer werden ermordet, und Doc Sportello entdeckt ein mysteriöses Kartell namens „The Golden Fang“, das hinter allem zu stecken scheint.

„Natürliche Mängel“ ist ein Buch, das vom selben dunklen und doch zutiefst menschenfreundlichen Humor getragen ist wie die Klassiker „V.“ oder das erwähnte Meisterwerk „Gravity’s Rainbow“. Es ist den Pynchon’schen Frühwerken ähnlich, die das 20. Jahrhundert aus der Warte der Außenseiter, Freaks und Hipster betrachten – aber weitaus zugänglicher. Im Englischen geübten Lesern sei daher empfohlen, „Inherent Vice“ im Original zu lesen. In der Übersetzung geht notgedrungen einiges an Eleganz und Witz verloren.

Vorangetrieben wird der Plot von einem nicht enden wollenden Strom von Dialogen, der den besten Drehbuchschreibern Hollywoods Ehre machen würde. Sie sind wie immer gespickt mit milieu- und zeittypischem Jargon und allerlei Hipster-Wissen. „Inherent Vice“ ist ein klassischer Krimi in der Tradition des Krimi noir. Und es ist ein Sittengemälde des großen Umbruchs im amerikanischen Westen. Es treten auf: Freaks, Surfer, Gurus, Psychologen, Cops, Flugbegleiterinnen, Revolutionäre und Agenten der Macht, die unliebsame Bürger in Brückenpfeilern aus Beton verschwinden lassen.

Was hat dieses Buch mit uns zu tun? Erstens, ganz grundsätzlich: Die amerikanische Kriminalgeschichte ist, egal ob sie als Roman wie „Inherent Vice“ oder als Film wie „Bad Lieutenant“ daherkommt, immer auch ein Instrument demokratischer Selbstvergewisserung. Die Institutionen sind nicht von Gott garantiert, die Leute – „the people“ – haben sie sich aus Gründen der Vernunft selbst geschaffen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Aber Kontrolle allein tut es eben auch nicht.

Zweitens: Pynchons Romane sind klassische Romane. Sie handeln davon, wie Menschen auf Ereignisse reagieren, die schicksalhaft, zufällig oder auf philosophisch gesprochen: kontingent sind. (Die Amerikaner sagen luck dazu.) Wenn man sich fragt, wie menschliche Kollektive mit diesen Dingen umgehen, befindet man sich auf dem Gebiet des Politischen. Pynchon zeigt, wie der revolutionäre Umbruch der Sixties einen neuen Typus Mensch hervorbringt, der einerseits libertäre Werte von der Freiheit des Einzelnen verinnerlicht hat, deswegen aber mit ganz neuen autoritären Versuchungen umgehen muss. Er muss sich wie Doc Sportello fragen, ob sein Selbstbild stimmt, ob nicht auch er Nutznießer der Verhältnisse ist, die er beklagt.

Und drittens handelt dieser Roman von der Geburt des Internets. Für Timothy Leary, in den Sixties Zentralfigur der Bewusstseinserweiterungspolitik, war Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“ das Alte Testament des Cyberpunk. Und William Gibsons „Neuromancer“ das Neue. Nun aber hat Pynchon in seinem neuen Roman mehrere Verweise auf William Gibsons jüngstes Buch hinterlegt. Pynchon verweist hier also auf eine apokryphe Schrift seines eingeborenen Sohns, der uns einst vom „Cyberspace“ kündete. Kein Wunder ist es daher, wenn in „Inherent Vice“ ein Freak in einem brandneuen Netzwerk namens Arpanet herumgoogelt und zum Schluss kommt: Bald wird man keine Privatdetektive mehr engagieren müssen, um nach dem Verbleib von Personen zu recherchieren. Man braucht nur einen Netzzugang.

Thomas Pynchon: „Natürliche Mängel“. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2010, 480 Seiten, 24,95 Euro