WACHSENDE STADT
: Testosteron auf 43 Etagen

VON JULIA GROSSE

TRENDS UND DEMUT

Während meiner wöchentlichen Spinning-Stunden im Fitnessstudio schaue ich einem gigantischen Wolkenkratzer in der Ferne seit Monaten beim Wachsen zu. Jetzt ist es fertig, das angeblich höchste Wohngebäude der Stadt. Fast 150 Meter hoch ragt der „Strata Tower“ dunkel schimmernd in den Himmel und erinnert mit seinem schmalen, leicht gewölbten Dach an einen gigantischen Trockenrasierer, den ein Riese vergessen hat. Warum verfallen die Briten eigentlich immer noch in diese Malbuchpostmoderne? In London changiert die Symbolik der spektakuläreren Gebäude aus den vergangenen Jahren treffsicher zwischen schlechter Science-Fiction und Haushaltsgeräten. Und nun ein Rasierer.

In das Dach wurden drei riesige Windturbinen integriert, auch das, so erfährt man, sei eine bautechnische Weltpremiere. Bisher standen die Propeller still und sahen von Weitem eher aus wie die Uhren, mit denen altbackene Konzerne in ihren Lobbys Internationalität ausstrahlen wollen: New York, London, Tokio. Pures Testosteron auf 43 Etagen, das wunderbar korrespondiert mit seinem maskulinen Gegenstück: Norman Fosters Turm, von den Londonern verklemmt als „erotische Gurke“ umschrieben, liegt gleich um die Ecke. Der Rasierer ist Teil eines 1,5 Milliarden Pfund teuren Vorzeigemodells für innerstädtische Turboregenerierung.

Bis dahin war der Stadtteil Elephant & Castle eher nicht bekannt für Penthäuser mit Cityblick. Elephant & Castle ist vor allem das Zentrum einer der hässlichsten Shopping-Malls der Welt. Mit verwahrloster Architektur, Bowlingbahn, Dealereckchen, fettdurchtränkten Imbissbuden, depressiven Kunden und allem, was zu einem gescheiterten Stadtteil dazugehört. Direkt neben dem Strata Tower steht ein gigantischer Sozialklotz, der zur Geisterstadt geworden ist, seit alle Wohnungen wegen Abrissplänen geräumt und verrammelt wurden. Nur in einigen wenigen brennt abends noch unheimlich das Licht, weil hier zähe, alte Bewohner den Kampf um ihre vier Wände noch nicht aufgegeben haben. Neben diesem tristen, gescheiterten Bauprojekt wirkt der Rasierer wie ein peinlicher Witz, bei dem den Bewohnern drum herum das Lachen im Hals stecken bleibt.

Dass man ihnen ein derart plumpes Beispiel vor die Nase setzen muss, um den Wandel des Stadtteils einzuläuten, ist reichlich zynisch. Nur den Investoren gefällt es. Sie haben bereits einen Großteil der Wohnungen gekauft, und vor ein paar Tagen begannen sich plötzlich auch die Windräder zu drehen: Die attrappenhaft wirkende Apparatur produziert für den Rasierer tatsächlich „grüne“ Energie. Und wenn das wiederum bedeutet, dass das Brummen der Turbinen die stolzen Besitzer der Penthäuser direkt darunter ab sofort um den Schlaf bringen wird, dann hat der Witz „Strata Tower“ doch noch eine richtig gute Pointe.

■ Julia Grosse ist taz-Kulturreporterin in London