SCHUHE SIND NERVENSACHE
: Behindert fühlen

Ihr Nervenkostüm ist so marode wie meins

Es ist wieder so weit. Die Temperatur fällt, der Regen kommt, der Herbst ist da. Ich brauche neue Schuhe. Ich kenne genug Leute, denen dieser Umstand ein Leuchten in die Äuglein treiben würde. Mir beschert die Aussicht darauf Sorgenfalten und schlaflose Nächte. Ich brauche nämlich unter alle meine Schuhe eine Absatzerhöhung, weil meine Beine verschieden lang sind. Und so gibt es kaum einen Ort, an dem ich mich so behindert fühle wie in einem Schuhgeschäft.

Meistens spielt sich das wie folgt ab: Verkäuferin: „Hallo! Wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich: „Ich brauch Schuhe.“ Verkäuferin: „Woran hatten Sie denn gedacht.“ Ich: „Na ja. Nichts Bestimmtes. Sie müssen hoch geschlossen sein und ein möglichst breites, weiches, aber dennoch stabiles Fußbett haben. Die Sohle sollte über das Fußbett hinausgehen. Ein leichter Absatz wäre gut, der sich aber zum Boden hin verbreitern muss, auf keinen Fall darf er sich verjüngen! Die Sohle darf nicht hochgesteppt sein, keine Wellenform und kein zu starkes Profil haben. Der Schuh muss über dem Knöchel schließen, damit ich ordentlichen Halt habe. Auf jeden Fall sollte er durch Riemen oder Ähnliches enger zu stellen sein, da mein linker Fuß kleiner ist als der rechte.“

Jetzt zeigt sich, wie lange die Verkäuferin schon in ihrem Beruf arbeitet. Eine junge wird nun einige hübsche Schuhchen anschleppen, die ich dann sämtlich mit Hinweis auf Nichterfüllung meiner Bedingungen zurückweisen muss. Eine ältere, praktisch denkende Fachkraft wird mich in die Rentnerabteilung schleifen zu den Gesundheitstretern, die ich mit dem Zusatz „Elegant aussehen sollen sie auch!“ ebenso abschmettern werde.

Spätestens jetzt wird das Nervenkostüm der Verkäuferin so marode sein wie meines. Ich kann den Laden zumindest mit dem Gefühl verlassen, dass es in diesem Moment einen Menschen auf der Welt gibt, der mich versteht. LEA STREISAND