Exzentrische Figuren, unerwartete Situationen

LESUNGEN Gehe auf das Internationale Literaturfestival Berlin, ansonsten hast du freie Hand, sagten wir unserem Autor. Hier sein Bericht

Auf Festivals zu gehen ist toll, über Festivals zu schreiben eine Qual. Man kann den einzelnen Sachen nicht gerecht werden und gerät in Panik

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Internationale Literaturfestival Berlin hatte für mich am Abend des 19. Septembers begonnen. Oder zumindest der Text darüber: Ich war zur Bar25 gefahren, die gerade dabei war, ihren Abschied zu feiern. L. hatte mich auf die Gästeliste gesetzt. Ich hatte vor diesem Absperrgitter am Eingang gestanden und der nette Türhüter hatte mich wegen meines Namens bedauert, während er fünf Minuten in vielen Zetteln herumsuchte.

„Ich kann dich nicht finden.“

„Na ja – macht ja auch nichts.“

Ich rief L. an. Niemand antwortete. Das Straßenlicht glitzerte traurig, als ich zu Kaiser’s fuhr, um mir Bier zu kaufen.

Dann rief L. doch an. Begeistert erzählte ich, wie ich eben so erniedrigt und beleidigt vor dem Türhüter gestanden war und dass ich dabei gedacht hatte: Ab jetzt darf ich bis ans Ende meiner Tage nur noch auf diese ganzen furchtbaren Literaturveranstaltungen gehen. Literaturhaus! LCB! ILB! OCB! Oje!

Der Gefühlsgedanke war natürlich auch selbstperformativ, aber trotzdem komplett unmöglich, denn die Literaturveranstaltungen, auf denen ich in den letzten Jahren gewesen war, die Abende, an denen ich selbst vorgelesen hatte; alles war ja richtig, richtig gut gewesen. Und überhaupt nicht so behäbig, wie man sich das vor zwanzig Jahren vorgestellt hatte.

„Na gut – vielleicht hattest du dich geärgert, dass du selber nicht zum Lesen auf dem ILB eingeladen worden warst?“

„Nein“!

Es war eher so, dass ich als Autor gewisse Probleme hatte. Und irgendwie kam es mir auch ständig so vor, als wäre ich nichts richtig; weder richtiger Journalist noch richtiger Schriftsteller, richtiger Raver sowieso nicht, und wann das Buch, das seit einem Jahr angekündigt war, endlich fertig sein würde, stand in den Sternen.

Klar; die Sterne fallen irgendwann runter; alles wird super, aber trotzdem. Und dann sollte ich auch noch über dies Festival schreiben, mit diesen ganzen AutorInnen, die das viel besser hinkriegen als ich. O weh. Nein, klasse!

Mein Abschiedsabend in der Bar25 war prima. Dann zögerte ich lange, ob ich den Auftrag, über das ILB zu berichten, annehmen sollte. Auf Festivals zu gehen ist toll, über Festivals zu schreiben eine Qual. Man kann den einzelnen Sachen nicht gerecht werden und gerät in Panik.

Ein wenig zumindest verminderte der Kollege die Stressandrohung, als er sagte, dass ich mir nur die zweite Hälfte des Festivals anschauen sollte und man die offensichtlichen Highlights – den Auftritt des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu usw. – schon mit Texten abgedeckt habe und dass ich machen könnte, was ich wolle.

Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) ist schön und groß, hat aber den Nachteil, dass es verkehrstechnisch nicht gut angebunden ist. Was nicht weiter schlimm war, denn das Wetter war großartig und ich kam mit dem Fahrrad.

Am Autorenzelt traf ich B. Er sagte, etwa 50 Praktikanten seien hier beschäftigt und vormittags, wenn’s um Jugendliteratur geht, sei es immer supervoll und supertoll.

Dann schaute ich mir den ungarischen Schriftsteller László Kraznahorkai an, der begleitet von Verena Auffermann sein neues Buch „Seiobo auf Erden“ vorstellte. Kraznahorkai hatte ich als großartigen Melancholiker in Erinnerung. Sein erster Roman „Satanstango“ war 1994 von Bela Tarr in einem sechseinhalbstündigen Film kongenial verfilmt worden. Sein neues Buch schien auch super zu sein. Verena Auffermann sagte, dies sei „ein Buch des Lebens“ und sie hätte noch nie ein solches gelesen gehabt.

Gleich darauf sprachen Sibylle Lewitscharoff und Thomas Steinfeld von der SZ im Theatersaal des Hauses über Stil und die deutsche Sprache. Es ging wohl auch darum, dass der Nationalsozialismus „das herrliche Verdauungsorgan der deutschen Sprache“ beschädigt habe und dass infolgedessen große Teile der deutschen Nachkriegsliteratur nicht so gut gewesen wären. Interessant schien mir auch, dass bei meiner ersten Lesung vier, bei der zweiten drei und bei der dritten zwei auf der Bühne saßen. (Wie viele bei dem 97-jährigen slowenischem Dichter Boris Pahor auf der Bühne saßen, hab ich vergessen. Die Lesung des oft als Nobelpreisträger Gehandelten war beeindruckend und endete mit einem eleganten „Voilà!“.)

In der Nacht ging es weiter. Unter dem Motto „Authors for Peace“ gab es zum Weltfriedenstag eine 24-stündige globale Onlinelesung mit 75 Autoren, die dann auch den Weg ins „Guinness World Record“-Buch fand. Ein Vertreter des Guinness-Buchs las auch. Die AutorInnen hinter ihren Webcams wirkten irgendwie fragil. Alle paar Minuten gab es unter dem Webcam-Livebild eine Anzeige des Internetdatingdienstes „wer-kennt-wen-de“. Meist gab es etwa 20 Viewers.

Es gab viele Orte, an denen gelesen wurde. Meist war ich im HKW. Weil es so leer war, konnten sich die Gedanken hier viel besser entfalten. Das Collegium Hungaricum war aber auch sehr schön. Die Theaterautorin Dea Loher führte „exzentrische Figuren in unerwarteten Situationen“ vor. (Die Titel der Veranstaltungen waren wirklich gut gewählt.) Von ihrem Prosaband würde ich mir gern etwas abschneiden.

Dann war es Donnerstag. Im großen Saal gab es einen „Ü-20-Poetry-Slam-Wettbewerb“ verschiedener Schulen. Anders als im Sport oder in der Musik ist es wohl so, dass es nur wenige wirklich gute Autoren unter 20 gibt. Am besten gefiel mir der Vortrag von „Achmed“ aus Tempelhof, der von seinem toten großen Bruder handelte. Der Moderator sprach den Namen des Slammers zweimal falsch aus; erst nannte er ihn „Ahmed“, dann „Ahmat“.

Abends ging es im gut besuchten Kino Babylon um Alkohol und Literatur. Der polnische Autor Andrzej Stasiuk, der ein schönes Buch über „Dojczland“ geschrieben hat (seine These: „Deutschland = Massenmord und Motorisierung“) und früher der Schrecken der Buchhändler gewesen war, da er deren Einrichtungen zu zertrümmern pflegte, war auch dabei. Die meisten Schriftsteller trinken, betrunken zu schreiben bringt aber eher nichts. Während der Schweizer Dieter Bachmann von geselligen Schriftstellern sprach, die zusammen trinken, fand Stasiuk die Vorstellung, mit Kollegen zu trinken, recht furchtbar. In der Literatur ist das Trinken eine Figur, die man einsetzt, um Distanz zum Beschriebenen aufzubauen.

Viel anderes passierte noch. Wunderschön war der Auftritt des Lesebühnenhelden Jochen Schmidt. Befreit mussten alle lachen.

Der letzte Tag, der Samstag, war dann eher traurig gewesen. Zuvor war es der schönste Herbst gewesen; nun war es plötzlich dann kälter geworden. Es hatte Hunde und Katzen geregnet. Dann musste ich auch noch in der Kneipe Bundesliga gucken, weil ich meinen Verein (Schalke) nicht im Stich lassen wollte.

Dann fuhr ich mit dem Bus zur Kochstraße und ging von da im strömenden Regen zum Reichstag, wo gerade Berlin-Marathon war. Es gab unendlich viele Absperrungen, Behinderungen und mürrische Ordner.

In grün leuchtenden Regenjacken fuhren die letzten Inlineskater ins Ziel. Auf den riesigen Monitoren sah dieser trostlos-graue Regentag viel besser aus als in echt. Lang dauerte es, zum HKW vorzudringen, an einer überflüssigen Sperre hatte ich meine Festivalakkreditierung vorzeigen müssen, um durchgelassen zu werden.

Das HKW wirkte noch verlassener als die Tage zuvor. 50 Leute vielleicht waren im Theatersaal, in dem German Sadulajew aus seinem Roman „Ich bin Tschetschene“ vorlas. Der mittlerweile in St. Petersburg lebende Autor versteht sich als Internationalist. Ich dachte an das Dokfilmfestival in Leipzig, wo ich in den letzten Jahren erschütternde Filme über den Tschetschenienkrieg gesehen hatte, und dass es anders ist, wenn man in echt jemanden vorlesen hört.

Ich ging dann zum Abschluss in eine Veranstaltung, in der es um Berlin als „Mekka“ und Inspirationsquelle für junge AutorInnen, vor allem aus Osteuropa, ging. Auf dem Podium saßen Michal Hvorecky aus der Slowakei, Noémi Kiss aus Ungarn und die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko. Die drei waren alle schon mal stipendienhalber in Berlin gewesen und hatten über die Stadt geschrieben. Noémi Kiss zum Beispiel eine Mordgeschichte, die in der berühmten Bar Ex ’n’ Pop spielt, die ich von früher recht gut kannte.

Es kam mir so vor, als wollte der Moderator von den Autoren immer nur hören, wie toll Berlin doch sei. Und als er plötzlich damit anfing, dass „arm, aber sexy“ also der Selbstbildsatz per se der Berliner sei, und wie sie nun darüber denken würden, dachte ich, hey, meinst du das jetzt tatsächlich irgendwie ernst, was du da redest? Er wusste ja, dass das ein Wowereit-Satz war, der Berlin nun ja nicht im Vergleich zu Kiew oder Bratislava charakterisieren wollte, dass es sich um einen touristischen Werbeslogan handelte, der nichts mit dem Selbstbild meiner Mitberliner zu tun hat, das doch eher ausgesprochen … vielschichtig ist. Noémi Kiss meinte in etwa, deutsch und sexy sei ein Widerspruch in sich, und Oksana Sabuschko sagte, „arm, aber sexy“ sei exakt das Selbstbild, dass die Ukrainer von sich hätten.

Einen Moment sprach ich noch mit Noémi Kiss, auch, weil ihr Deutsch eine wunderschöne Melodie hat. Wir tauschten zwei Sätze über das Ex ’n’ Pop aus.

Ein letztes Mal schaute ich mich um. Meine Festivalbilanz war sehr gut gewesen. Die paar Leute, die noch da waren, kamen mir total sympathisch vor. Wie schade, dass ich sie ja eigentlich gar nicht kannte. Draußen regnete es noch immer. Mir war wehmütig zumute. Der Weg zurück war kompliziert wegen der ganzen Marathonabsperrungen und führte durch den Tiergarten. Am Rande des Tiergartens traf ich zwei junge Frauen, die fragten, wie sie am besten zum Haus der Kulturen der Welt kommen könnten. Ich sagte, der Weg wäre einfach, aber oft auch dunkel. Sie sagten, sie wären fast jeden Tag auf dem Literaturfestival gewesen und dass es ihnen sehr gut gefallen habe. Ob ich Autor sei? – Nein, äh, also ja; ich berichte über das Festival. – Du bist also Journalist? – Ja, irgendwie, aber eigentlich auch Autor. Ob ich Feuer habe? – Ja.

Leider funktionierte das Feuer nicht.

■ Eine längere Version dieses Textes steht im Blog November07 auf www.taz.de