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ROMANE SPIELEN 800 Seiten lesen? Das geht jetzt schneller: In Dresden wurde „Der Turm“ nach Uwe Tellkamp uraufgeführt, in Stuttgart „Teil der Lösung“ nach Ulrich Peltzer, beide als Stichwortgeber für die Identität der Stadt

Mit der Traute, den Zuschauer auch zu überfordern, ging einmal ein Angebot verschiedener Lesarten einher

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Eine Trabi-Safari tuckert durch Dresden, Touristen sitzen drin und schauen raus. Die Ostalgie ist zum Markenartikel geworden. Teil davon ist die Erzählung über eine Zeit, als die Nostalgie, das Heimweh nach der Vergangenheit, als äußerst verdächtig galt. Repräsentiert in alten Villen, Tapeten, großbürgerlichen Wohnungszuschnitten, Bibliotheken und Schallplatten war die Kultur der Vergangenheit Rückzugsort vor den Repressionen im Alltag der DDR und Ankerpunkt für die Fantasien, wie man aus ihm entkommen konnte. Das hat Uwe Tellkamp in seinem Roman „Der Turm“ beschrieben, mit einer Sprache, die selbst oft rankenschlingend wie Jugendstiltapetenmuster austreibt.

Im Staatsschauspiel Dresden ist daraus jetzt ein Theaterstück geworden, ein vielfiguriges, dialogreiches Panorama, das fast alles, was Tellkamp im Gestus der Erinnerung erzählt, wieder Gegenwart werden lässt. Von Anfang an sind alle da, verteilt über die drei Reihen von Balkonen, die Olaf Altmann als Bühnenbild für die Inszenierung von Wolfgang Engel gebaut hat, neun Stationen der gegenseitigen Beobachtung. Die Schauplätze des Romans, die Familienfeier, die Klinik, der Verlag, die NVA, entstehen allein aus den Dialogen wieder, oft parallel montiert und ineinander geschnitten: Das erleichtert vieles. Denn so erfährt man mehr als die gerade Handelnden wissen, ahnt die Reaktionen der sie Beobachtenden voraus, spürt etwas vom System der Kontrolle und der erpresserischen Arbeit mit Informationen, die Ärzten und Schriftstellern, Lektoren und Schülern die Luft abschneiden.

Die Bühnenfassung haben Jens Groß und Armin Petras geschrieben, und ganz anders, als zuletzt bei Petras’ Bearbeitung der „Blechtrommel“ von Günter Grass, ist das epische Moment, der Fluss der Worte, der breit wie die Elbe den Leser schaukelt und mit immer mehr Treibgut umgibt, zurückgedrängt zugunsten verdichteter Momentaufnahmen. Das funktioniert ganz gut, trägt über drei Stunden und ist mehr als bebildertes Hörspiel, was Romanbearbeitungen auf der Bühne oft vorgeworfen wird. Vor allem der zynische Humor des gebildeten Funktionärs, der Widerspruch vorausahnt und seinem Gegner die Worte aus dem Mund stiehlt, bevor sie entstehen konnten, hält auch beim Zuschauer die grauen Zellen auf Trab. Perfide das, und weiter als die ratlosen Opfer hätte man auch nicht gewusst.

So nah wie bei der Lektüre, bei der sich die Denkweisen einzelner Figuren, etwa vom Träumer Christian, in den Lesenden einschleichen und tageweise seine Wahrnehmung verändern, kommt man den Personen freilich nicht. Der Fokus liegt eher, ganz im Sinne einer Reflexion der Geschichte, auf der Arbeit der kontrollierenden Apparate und disziplinierenden Institutionen, und wie sie den Spielraum des Einzelnen zunehmend einschränken.

Mit Wolfgang Engel, seit den 80er Jahren als Regisseur in Dresden geschätzt und von 1995 bis 2008 Intendant in Leipzig, hat das Staatsschauspiel Dresden den Stoff auch einem Mann anvertraut, der eben Ansehen bei jenen Bildungsbürgern besitzt, von deren geistiger Atemnot in den letzten Jahren der DDR „Der Turm“ erzählt. Das ist eine Referenz an die Geschichte der Stadt im Doppelpack: Freilich um den Preis einer zu großen Nähe zwischen Autor und Interpret. So, wie sich ein aufgeregter Tellkamp und ein souveräner Engel am Ende der Premiere in Dresden umarmten, so väterlich stolz geht der Regisseur mit dem Romanautor um. Was fehlt, ist eine Perspektive, die kritisch auf den Erfolg des Romans und seine Sehnsucht nach einem Bildungsbürgertum schaut, das, anders als in der Erzählzeit des Romans, in der Phase seiner Rezeption wieder an Boden und Ansprüchen gewonnen hat. Im Roman ist es nur ein machtloser Sehnsuchtsort, dessen Rückeroberung utopisch bleibt. Dass die Wiederbesetzung des Ortes aber mit neuen Methoden von Einschluss und Ausschluss einhergeht und Verdrängung jetzt wieder ganze Klassen trifft, kommt nicht in den Blick.

„Mit 500 Seiten, da fängt der Ozean erst an“, sagt Christian, der lesehungrige, einmal über seine Gier, sich von der Literatur entführen zu lassen. Es gab eine Zeit, vor zehn bis fünf Jahren, da war der Ausnahmezustand, in den ein Leser dickleibiger Romane sich freiwillig begibt, in deren Bühnenbearbeitungen ebenso zu spüren wie eine literaturkritische Haltung. Warum macht ein Stoff Karriere in unserer Gegenwart? Warum taugt ein Autor, Licht auf die dunklen Flecken der eigenen Zeit zu werfen? Was Frank Castorf mit Dostojewski, Stefan Pucher mit Max Frisch, Johan Simons und Andreas Kriegenburg mit Houellebecq anstellten, reflektierte solche Fragen mit. Und selbst wenn sie riskierten, dass in der Verschränkung von Romanstoff und Metaebene Erzählstränge verlorengingen, war doch das Ergebnis ertragreicher, lustiger, verwirrender, inspirierender und eigenständiger als die jetzige Form der Bühnenromane. Mit der Traute, den Zuschauer auch zu überfordern, ging ein Angebot verschiedener Lesarten einher.

Heute scheint es bei Romandramatisierungen oft um Literatur light zu gehen, eine beschleunigte Aneignung gegenüber der Anstrengung des Lesens. Der Denkraum des Romans wird eingepasst in handwerklich solide Dramentechnik. Statt, wie vor weniger Jahren noch, die Literatur als Hebel zur Öffnung des Theaters zu benutzen und zum Anschluss an andere Diskursfelder.

Dabei spielt die Suche nach Ausweitung der Inhalte noch immer eine Rolle beim Griff zum Roman, das ist schon deutlich. Zum Beispiel in Stuttgart, wo am Samstag im Kammertheater „Teil der Lösung“ Premiere hatte. Ulrich Peltzers 2007 erschienener Roman wurde auch deshalb gewählt, weil sich das Staatstheater Stuttgart, das gerne eine kritische Instanz der Stadt sein will, für diese Spielzeit die Frage nach der Zukunft der Städte vorgenommen hat, nach Segregation und Gentrifizierung, und davon handelt Peltzers Roman. Direkt an Aktionen gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums, gegen Kameraüberwachung und den Ausschluss der in die Armut Gedrängten aus dem städtischen Leben ist seine Protagonistin Nele beteiligt, eine junge Frau, die mit Turnschuhen, Rucksack und Kapuzenpulli aus dem Kammertheater gleich rüberstapfen könnte zu den Protesten gegen Stuttgart 21.

Die kritische Perspektive auf den Erfolg des Romans, seine Sehnsucht nach dem Bildungsbürgertum fehlt

Es treten auf: drei skurrile Typen vom Verfassungsschutz, die Nele beobachten und selbst vom Sinn ihres Tuns nur mäßig überzeugt sind, ein Co-Aktivist als Sparringpartner für eine Diskussion um Gewalt, Zeichensetzung und fehlenden Anschluss zu einer Basis, die Veränderung in der Hand hätte, und als Hauptfigur ein etwas romantischer und nicht ganz alltagsfitter Journalist, Christian, der sich in Nele verliebt. Er recherchiert über die Roten Brigaden in Italien, die zwanzig Jahre nach der Beendigung des bewaffneten Kampfes erneut verfolgt werden.

In der Bühnenfassung von Alexander Seibt und in der Hand der jungen Regisseurin Seraina Maria Sievi wird aus „Teil der Lösung“ ein Gripstheater-taugliches Stück, das Lovestory und Diskurs unterhaltsam verschränkt. Manchmal treten die Figuren ein wenig aus sich raus, um ein bisschen zu erzählen und andere vorzustellen, aber gleich kehren sie wieder ordentlich ins Spiel zurück. Die Leidenschaft und die Ernsthaftigkeit, mit der Nele ihre politischen Ziele verfolgt oder Christian seine Recherchen, dienen mehr der emotionalen Ausstattung der Figuren als einer tatsächlichen Diskussion um Gewalt.

Vor allem aber bleibt ein Protagonist auf der Strecke, und das ist die Stadt selbst, um die es doch gerade gehen sollte. Fassbar wird sie in der Inszenierung bloß als Schauplatz verschiedener Rendezvous, aber nicht als Raum, um dessen Definition gestritten wird. Das liegt weniger am flexibel bespielbaren Bühnenbild, das mit Imbissbude, Gartenstühlen, Kinoleinwand und Plastebäumen einen idyllisch-vergammelten Großstadtwinkel markiert, als vielmehr am handlungsorientierten Zuschnitt des Textes: Als hätte man Angst, sich mit Beschreibungen, Reflexionen, Beobachtungen den Vorwurf des Undramatischen und der „epischen Seuche“ einzuhandeln, wie Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ, Romanbearbeitungen für die Bühne gerne geißelt.

So werden Romanbearbeitungen immer häufiger zum inhaltlichen Lückenbüßer, das Thema ist primär. Ein abgeschlossenes Werk, das macht man jetzt aus den Romanen für die Bühne, statt aus der Unabschließbarkeit Kapital zu schlagen und die Notwendigkeit der Fragmentierung für eigene Setzungen zu nutzen. Und der Mut, den ungleichen Umgang mit der Zeit auszureizen, verschiedene Wahrnehmungsformen auszuprobieren und aus Epischem und Dramatischem eine eigene Form zu generieren, schwindet. Das Publikum versteht wieder alles, aber es ist nicht glücklich mit dieser plötzlichen Überschaubarkeit der Geschichten. War es das jetzt, fragte es sich achselzuckend bei den Premieren in Dresden und Stuttgart? Ja, der Punkt kann abgehakt werden, Identität Dresden bestätigt, Stadtumbau als Problem markiert, mehr ist gerade nicht drin, scheinen die Theater zu antworten.