Sozialkritik in Farbe

AUSSTELLUNG Ob England unter Thatcher oder das heutige Amerika: Der britische Dokumentarfotograf Paul Graham zeigt die soziale Wirklichkeit in Farbfotografien, in diesem Genre gilt er als einer der Pioniere. In Hamburg ist jetzt seine erste Retrospektive zu sehen

In der Serie „American Night“ bleibt das gezeigte Elend, durch Überbelichtung unkenntlich gemacht, auf Distanz

Der britische Fotograf Paul Graham hat sie abgeklappert: North London, South London, East London, Central London. Er kannte sie alle, die Sozialämter der britischen Hauptstadt. Er war in den 80er Jahren selbst einer von denen, die von der konservativen Sozialpolitik zu gescheiterten Existenzen gemacht wurden. Tagelang mussten sie in den heruntergekommenen Wartesälen der Behörden sitzen und auf das nächste Gespräch mit den Beamten warten.

In der Fotoserie „Beyond Caring“ – „Jenseits der Fürsorge“ –, die derzeit in einer Graham-Retrospektive im Hamburger Haus der Photographie zu sehen ist, zeigt er die Lage derjenigen, die auf staatliche Hilfe angewiesen waren. Die Arbeitslosenquote lag bei 12,3 Prozent und Margaret Thatcher war Premierministerin im Vereinigten Königreich. Die „Eiserne Lady“ war umstritten: Ihr wurde neben der rigorosen Wirtschaftspolitik gar die Zerstörung des gesellschaftlichen Gemeinschaftsgefühls vorgeworfen. „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht“, sagte sie damals, „nur Männer, Frauen und ihre Familien.“

Heimlich drückte Graham auf den Auslöser: Weil er nicht durch den Sucher seines Fotoapparats blickte, entstanden Bilder aus verrutschten Perspektiven. Seine Motive bemerkten nicht, dass sie gerade fotografiert werden. Genau das sieht man ihren Gesichtern an.

Graham kritisiert die „economical violence“, die Gewalt, die ein auf Wirtschaft fixiertes Regierungshandeln den Menschen zufügte. Gleichzeitig sind seine Fotos von einer erstaunlichen Farbigkeit: Nachdenklich Wartende auf roten Bänken, Kinder in pinken Schneeanzügen kontrastieren mit der grauen, auswegslosen Lebenssituation. Mit dieser Arbeitsweise waren nicht alle Betrachter glücklich. „Das Kind trägt Pink, das ist eine frohe Farbe, in Schwarz-Weiß wäre es sicher besser“, sagte etwa der Konzeptkünstler und Turner-Preisträger Gillian Wearing über Grahams Fotografie.

Graham gilt als einer der ersten Dokumentarfotografen, der Farbe als ästhetisches Mittel benutzte. 1956 im englischen Stafford geboren, studierte Graham in Bristol und ging nach London, wo er 1984 mit der Serie „Beyond caring“ erste Aufmerksamkeit erregte.

Heute lebt der 54-Jährige in New York, sein Thema ist jetzt Amerika. Die Widersprüche der US-amerikanischen Gesellschaft zeigt er in der Serie „American Night“: Auf den hellen Bildern sind Straßen und Parkplätze kaum zu erkennen. Der Asphalt ist aufgerissen, die Häuser sind heruntergekommen – diese überhaupt nicht lichte Welt wirkt, als wolle Graham sie hinter eine Milchglasscheibe verstecken. Irgendwo, ganz klein, sitzen oder gehen Menschen, in jedem Bild immer nur ein einziger, um sie herum Leere. Das gezeigte Elend bleibt, durch Überbelichtung unkenntlich gemacht, auf Distanz.

Dann die andere Seite: Robuste Bungalows unter idyllisch blauem Himmel bilden eine Gegenwirklichkeit, nämlich eine sichere und bürgerliche Zukunft. Auch hier bleibt Grahams Kamera außen vor: Hinter die Häuserfassaden lässt er den Betrachter nicht blicken.

„Die Realität und ich existieren gleichzeitig in diesem Moment. Das ist das Allerwichtigste“, zitiert der Ausstellungskatalog den japanischen Schriftsteller Haruki Murakami. Damit wär auch Grahams Nähe zu den auf seinen Fotos Gezeigten gut beschrieben. KATHARINA HECKENDORF

Bis 8. Januar 2011, Haus der Photographie in den Deichtorhallen, Hamburg