POSTEVOLUTIONÄRE ORGANISMEN
: Jenseits der Natur?

Gott und die Welt

VON MICHA BRUMLIK

Die jüngste, sozialdarwinistisch instrumentierte Debatte um Immigranten hat mit dem Streit um die Erblichkeit der Intelligenz längst überholte Überzeugungen des 19. Jahrhunderts wiederbelebt. Schon das völlige Fehlen aller Hinweise auf den neuen Forschungszweig der Epigenetik bewies die hoffnungslose Unkenntnis von Sarrazin. Zugleich wurde mit dieser Debatte das Verhältnis von Natur und Kultur thematisiert; auch dabei wurde an der Flachheit, mit der die Darwin’sche Evolutionstheorie bemüht wurde, das Veralten dieser Ansichten deutlich.

Sind doch mit der Gentechnik, mit der Kartierung des Genoms, mit der Technik des Klonens, mit der Erschaffung „künstlicher“ Organismen die Grenzen von Natur und Kultur so ins Schwingen geraten, dass diese uns vertrauten Kategorien ihre Trennschärfe zu verlieren beginnen. Eben dem widmet sich eine neue, im medizinhistorischen Museum der Charité eröffnete, von Ingeborg Reichle und Inga Franke besorgte Ausstellung mit Werken des Künstlers Rainer Maria Matysik.

Matysik, der zu den wenigen international bekannten Künstlern gehört, die sich den sogenannten Lebenswissenschaften widmen, hat in dieser Ausstellung unter dem Titel „Jenseits des Menschen“ Skulpturen von – wie er es nennt – „postevolutionären Organismen“ geschaffen und sie in das bisweilen gruselig anmutende Museum der Charité mit ihren Präparaten von Embryonen und Geweben integriert. Drei riesige, Matysiks disziplinierter Fantasie entsprungene, an Algenarten erinnernde Skulpturen verweisen auf weitere vielfältige, feingegliederte, aus Wachs geformte Gewebearten, die der Betrachter auf den ersten, uninformierten Blick allenfalls durch ihre grellen Farben von den sonstigen, eher grauschwarzen Exponaten unterscheiden kann.

Die wissenschaftliche Debatte, die diese Kunst inspiriert, gipfelt im Begriff des „Biofakts“, also des von Menschen wissentlich und willentlich geschaffenen Dinges aus „Naturstoff“. Provokanter Mittelpunkt der Ausstellung ist daher ein tief orangerotes, ungefähr handtellergroßes Präparat, das wiederum an Algen und Korallen erinnert. Indes: Es handelt sich um in Nährlösung gezüchtetes Gewebe aus dem Künstler selbst entnommenen Hautzellen. Ein authentisches Biofakt! Imitation der Imitation, Fortbildung und Neuschöpfung oder nur Parodie?

Der Katalog zur Ausstellung parodiert deren eigenes Vorhaben, indem hier Kultur Kultur nachahmt: Das blaue Bändchen sieht genauso aus wie ein Bändchen der edition suhrkamp, nur dass ebendieser Name fehlt. Im Bildteil des Katalogs sieht man dann, penibel dokumentiert und nur schwer zu ertragen, Farbfotografien des chirurgischen Eingriffs in den Leib des Künstlers zur Entnahme des Naturstoffs.

Spätestens hier wird man unweigerlich an den im 19. Jahrhundert imaginierten Mythos von Frankenstein erinnert und mit der Frage konfrontiert, ob nicht solches Vernutzen des Naturstoffs eine Form der Hybris darstellt, die sich noch rächen wird.

Kuratorinnen und Künstler haben dies unter das Rubrum „Postevolutionäre Organismen“ gestellt. Dann aber fragt sich, ob sie nicht selbst jene Grenzen, deren Verschwinden sie ja demonstrieren wollen, wieder errichten. Sollte ihnen entgangen sein, dass der ursprünglich auf die Entwicklung der natürlichen Arten zählende Evolutionsbegriff Darwins inzwischen Eingang in die historischen Wissenschaften bzw. die Soziologie gefunden hat? Und zwar so, dass es heute seinen guten Sinn hat, von der Evolution gesellschaftlicher Strukturen zu sprechen, davon, dass die Entwicklung von Gesellschaften zwar von den beabsichtigten Taten menschlicher Individuen und Gruppen verursacht wird, ihr Zusammenspiel am Ende jedoch zu Ergebnissen kommt, die ein Eigenleben dieser Strukturen zu erweisen scheinen.

Strikt evolutionstheoretisch gedacht, wäre nämlich auch die von Menschen wissentlich und willentlich geschaffene Umbildung des Naturstoffs – vom genmutierten Mais bis zum Biofakt einer Plastik aus menschlicher Haut, die „Biofakte“ – nichts anderes als ein Schritt in der weiteren Evolution der Natur.

Freilich tritt heute an die Stelle der sogenannten „natürlichen Auslese“ der Umweg über das Labor oder die Werkstatt. Daran, dass es sich beim Entstehen und möglichen Fortexistieren derartiger Organismen noch immer um „Evolution“ handelt, ändert der Umstand ihrer Entstehung, ihre künstliche Produktion, gar nichts.

Die Ausstellung wurde am 16. September im medizinhistorischen Museum der Charité eröffnet und ist dort bis zum 9. Januar kommenden Jahres zu sehen.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor an der Uni Frankfurt am Main