Trickser auf dünnem Eis

STEIRISCHER HERBST Entdecke den Virtuosen in dir: Kunst und Spiele auf dem Festival Steirischer Herbst in Graz

Je mehr Spezialistentum im Alltag gefragt ist, und der Drang wächst, alles zu beurteilen, desto wichtiger wird, sich gegen Anmaßung zu wehren

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Was geschieht hier eigentlich? Die Bühne ist voll in der Helmut-List-Halle in Graz, alle 16 Tänzer der Forsythe-Company fuhrwerken umeinander zu leichter Lounge-Musik, unglaublich, dass sie nicht zusammenstoßen. Jeder scheint seinen eigenen Plan im Kopf zu haben, vom Raum, von der zur Verfügung stehenden Zeit, von dem, was dringlich zu tun ist. Wie eine simultane Projektion von 16 unterschiedlichen Filmen übereinander wirkt diese Szene in Forsythes Stück „I don’t believe in outer space“. Virtuos fürwahr, mindestens schon einmal im klassischen Sinn: Was für einen überaus geschulten Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat muss man haben, um da durchzukommen.

Mit der Virtuosität der Künste und der Virtuosität, die in einem zunehmend von Selbstvermarktungsstrategien geprägten Alltag gefordert wird, beschäftigt sich in diesem Jahr das Festival Steirischer Herbst in Graz. Unter der Überschrift „Meister, Trickster, Bricoleure“ wird dabei auch ein schillerndes Feld betreten, in dem Sein und Schein auch gerade da, wo es um soziale Kompetenzen geht, in manipulativer Absicht genutzt werden. Mit der Forsythe-Company, die in Frankfurt und Dresden zu Hause ist, haben sie ein Ensemble eingeladen, das auch für die Komplexität seiner anspruchsvollen Technik berühmt ist. Und dennoch nicht auf eine Bewunderung des gesteigerten Könnens aus ist, was als ein anachronistischer Modus in der Rezeption von Kunst gilt, sondern alle diese Mittel einsetzt, um das Erzählen zu verdichten, den Ausdruck zu differenzieren, Beziehungen aufeinander zu schichten in stetig sich verändernden Strukturen.

Alles ist Ausdruck

Alles ist Ausdruck in „I don’t believe in outer space“, Stimme, Körper, Text, Bewegung, Geräusch, Musik, Licht. Nur dass alles hier auseinanderbricht, Stimmen sich vom Körper trennen und in andere fahren, horrorfilmähnliche Szenarien mit niedlichen, kleinen Gesten erzählt werden, einzelne Körperglieder zum Double rhetorischer Gesten anderer Tänzer werden. Keiner ist nur er selbst, jede Figur ist hier gesampelt, aus popkulturellen Versatzstücken, Songs, Filmzitaten. Das Stück, 2008 entstanden, und seitdem erst wenige Male aufgeführt, taucht tief in eine Kultur des Schreckens und Erschreckens ein: eine Art Halloween, mit Masken aus Filmen von David Lynch und Stanley Kubrick, bei dem der eine Teil des Körpers womöglich schon in einem anderen Kostüm steckt als der andere.

Der Antrieb kommt aus der Angst, die ebenso gut den eigenen, persönlichen Tod als auch das Ende der Welt, wie wir sie kennen, meinen könnte: Und alles, was die Kultur dagegen aufzubieten hat, funktioniert wie in einer Art Abwehrzauber, in der immer neu Popanze aufgebaut und zum Ersatz für das Bekämpfen der wahren Angstgründe zum Abschuss freigegeben werden. Eine verzweifelte Lustigkeit, schrill und aggressiv, ist deshalb ebenso Teil des Stücks, wie ein ständiges Gleiten zwischen innen und außen, Nähe und Distanz. Man ist sich nie sicher, ob das, was man gerade verstanden hat, auch wirklich gemeint ist, aber gerade in dieser Verunsicherung gibt das Stück eben auch ein Bild davon, wie dünn das Eis oft ist, auf dem man Entscheidungen fällt.

Jedes Wochenende sind auf dem Festival Steirischer Herbst, das noch bis zum 17. Oktober geht, andere Performance-Gruppen eingeladen, zudem beteiligen sich Museen und Kunstvereine mit Ausstellungen, die an das Festivalmotto mal mehr, mal weniger andocken. Ein Vergnügen liegt gerade darin, parallele Strategien zwischen den Künsten auch dort zu entdecken, wo das nicht intendiert war. Für Forsythe ist eben wichtig, die Aufmerksamkeit auch auf Mimik oder Handgesten Einzelner lenken zu können, bevor sie wieder entfesselt und gestreut wird; deshalb spielt er oft vor kleineren Zuschauergruppen als den Veranstaltern eigentlich lieb ist. Dieses Nebeneinander von Panoramablick und intimer Szene begegnet einem dann auf ganz andere Weise wieder in der Ausstellung des schwedischen Künstlers Matts Leiderstam im Grazer Kunstverein. Er lenkt den Blick mit Lupen, die er über Reproduktionen alter Landschafts- und Genrebilder angebracht hat und blendet so eine eigene Erzählung in die der Maler aus dem 17. bis 19. Jahrhundert ein.

Seine Ausstellung „Grand Tour“ knüpft an die Bildungsreisen von jungen Männern, die sich im Bildungsbürgertum beweisen wollten, nach Italien an. In Stadtansichten von Venedig und Rom, aber auch in romantischen Ansichten von Vulkanen entdeckt er immer wieder männliche Paare, die als Betrachterfiguren in die Bilder eingebaut sind. Manchmal kopiert und vergrößert Leiderstam diese Paare, manchmal richtet er nur die Lupe darauf und legt dazu den „Spartacus International Gay Guide“ daneben, dessen aufgeschlagene Seiten sich auf die Topografie der Bilder beziehen und sie als Cruising-Zonen der Gegenwart ausweisen. Oder malt er im Stile von Gustave Courbet die Restnatur an Autobahnraststätten, die als homosexuelle Treffpunkte gelten und sich heute dort befinden, wo Courbet noch plattes Land malte. So ist Leiderstam einerseits auf der Spur von Leidenschaften, für deren Geschichte er die Kunst als Zeugen einsetzt, während er andererseits alles sehr nüchtern und handwerklich solide präsentiert. Seine Ausstellung mit den eigens für das Anschauen der Kunstbücher gebauten Tischen macht einen ungewöhnlich aufgeräumten Eindruck.

Vom Eros geküsst

Das Festival betritt ein schillerndes Feld, in dem Sein und Schein in manipulativer Absicht genutzt werden

Die Rollen, die Leiderstam in seiner Installation einnimmt, sind vielfältig, und daran könnte man bei ihm die Virtuosität des modernen Künstlers festmachen: Kunsthistoriker, Genderforscher, Maler, Kopist, Regisseur einer räumlichen Inszenierung. Auch Bilderverschenker, denn manchmal bringt er Kopien einer Paradiesszene in städtische Parks, um sie dort zu fotografieren und zurückzulassen. Alle seine Aktionen aber sind auch eine Spur didaktisch, man beginnt nach kurzer Zeit in seiner Ausstellung die Botschaft zu suchen, das Detail, das man sonst übersehen hätte. Und nimmt so etwas den Ehrgeiz an, wie bei einer Schnitzeljagd die Hinweise zu finden. Und damit wird das Feld der Deutung, dem Leiderstam erst neue Türen öffnet, doch wieder verengt. Vom pädagogischen Eros geküsst ist auch die Hamburger Gruppe geheimagentur, die in Graz für eine Woche das „Casino of Tricks“ im Festivalzentrum im Forum Stadtpark eingerichtet haben.

Der Trick muss demokratisiert und mit anderen geteilt werden, er darf nicht mehr exklusiv sein, verlangte die Spielmeisterin in ihrer Eröffnungsrede. Wer bei ihnen spielen will, am Roulettetisch mit Chips, kann diese nicht für Geld bekommen, sondern muss ihnen dafür einen Trick verkaufen. Auch am Tisch selbst erhöhen vorgeführte Tricks die Gewinnchancen. Die werden archiviert, katalogisiert und weiteren Spielern zur Verfügung gestellt. Zum Beispiel kann man im Archiv schon finden, wie man sich einen Splitter rauszieht, aus einem Labyrinth herauskommt, bei anonymen E-Mails seine Spur verwischt oder es schafft, bei Empfängen als Erste vom Bürgermeister begrüßt zu werden. Um Tricks in den Bereichen Finanzspekulation und Subversion, wie man öffentliche Gelder den richtigen Zwecken zuführt, wird zwar explizit gebeten, aber sie waren erst mal nicht im Angebot, was Wunder auch.

Nicht ganz so symbolisch und politisch korrekt und von etwas lässigerem Charme war hingegen die Performance „Not every object used to nail is a hammer“ von Gaëtan Bulourde und Olivier Toulemonde aus Brüssel. Die beiden nutzten eine Skulptur aus Paletten, aus denen im Grazer Stadtpark eine Art Aussichtsterrasse gebaut war, als Bühne; was für die Zuschauer hieß, sich in der kühlen Oktobernacht in einer Decke zu hüllen und mit Ingwerpunsch vorzuglühen. Um dann eine Stunde lang zwei Männern beim Hauen von Nägeln in Bretter zuzusehen, Grundelement einer Komposition aus Hämmern und Quietschen, aus gut und schlecht und nicht genagelten Brettern, aus Kunst und Nichtkunst: Das war eine Referenz an Fluxus und eine Absage an den Künstler als Experten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Bulourde und Toulemonde dabei jeden Anspruch von Kunstfertigkeit und Spezialistentum unterlaufen, virtuos also geradezu im Verzicht auf das Übersteigern von Fähigkeiten, ist nicht neu. Schon die Fluxus-Leute brachten diesen Gestus ein. Aber, wie Gaëtan Bulourde sagt, die Motive dafür erneuern sich ständig: Je mehr Spezialistentum im Alltag gefragt ist, je mehr Autorität und Exklusivität ihres Wissens den Experten zugestanden wird und je mehr der Drang wächst, alles zu beurteilen und nach Rankings einzuteilen, desto wichtiger wird, sich gegen Anmaßung und Vermessung zu wehren, den Wertmaßstäben nicht auf den Leim zu gehen. Dabei hilft es zu sehen, wie der gut eingehauene Nagel, und der schlecht eingehauene Nagel und der nicht eingehauene Nagel zusammen ein neues Objekt und eine eigene Ästhetik bilden.