Das intensive Chaos des Kapitalismus

WIEDERENTDECKUNG Inzwischen erst recht aktuell: Der große Wirtschaftskrisenroman „JR“ von William Gaddis ist noch einmal in überarbeiteter Übersetzung erschienen

Alltag kostet bei Gaddis Kraft, „als ob das Leben selbst verbluten würde“

VON JULIAN WEBER

Dieser Roman ist nicht nach Kapiteln geordnet. Er hat keine Absätze. Und es fehlt die vertraute Instanz vieler Romanhandlungen: der auktoriale Erzähler. Das Geschehen auf den mehr als tausend Seiten von „JR“ entwickelt sich fast ausschließlich über Dialoge, deren Bedeutungen die Leser selbst einsortieren müssen.

Lektüre wird zur physisch anstrengenden, aber lohnenden Erfahrung. Denn wie die Figuren aneinander vorbeireden, durcheinanderquasseln und nebenher Briefe diktieren oder hektische Bürotelefonate erledigen, ist Schwerstarbeit am Gedächtnis. Der ständig unterbrochene Fluss der Sprache erinnert an das Stop & Go zur Rushhour auf einer Stadtautobahn: Abrupt wird beschleunigt und wieder abgebremst. In diesem Delirium offenbart sich erst das ganze Chaos der kapitalistischen Warenwelt. Das Treibholz der Sprache setzt eine Intensität frei, deretwegen ihr Autor, der amerikanische Schriftsteller William Gaddis (1922–1998), einer postmodernen „literature of exhaustion“ zugerechnet wurde.

Im Original erschien „JR“, Gaddis’ zweiter Roman, 1975. 1996 kam er zum ersten Mal auf Deutsch heraus, nun, in einer überarbeiteten Fassung, also noch einmal. Von seiner formalen Unzugänglichkeit hat das Buch nichts verloren. Von seiner verschrobenen Schönheit auch nicht. Im Gegenteil. Was vor gut zehn Jahren als unbrauchbar für die Gegenwartsbezüge der Literatur belächelt wurde, ist angesichts der fortschreitenden Weltwirtschaftskrise inzwischen wieder aktuell. William Gaddis protokolliert in „JR“ auch die Erschöpfungszustände von Individuen in einer korporativen Welt, die ohne Außen funktioniert.

Die hermetische Konstruktion funktioniert wie ein Ventil, das den permanenten Druck, dem die Protagonisten ausgesetzt sind, als riesigen Dampfstrahl freisetzt. „Als ob das Leben selbst verbluten würde“, heißt es an einer Stelle über die Kraftanstrengungen, mit denen der Alltag in „JR“ bewältigt wird. Die kaputte Sprache ist Beleg dafür, dass Gaddis angenommen hat, die kapitalistische Gesellschaft sei reparaturbedürftig.

Zwei Protagonisten beeinflussen den Lauf aller anderen Figuren in „JR“: Der titelgebende JR Van Sant ist ein elfjähriger Schüler, der während eines Klassenausflugs an die Wall Street den Ausführungen der Börsenmakler folgt, Geschäftsberichte mitgehen lässt und mit dem Aufbau eines eigenen Imperiums, der JR-Corporation, beginnt. „Es geht darum, Leute, die kaufen wollen, mit Leuten zusammenzubringen, die verkaufen wollen“, hört JR und setzt es in die Tat um. Sein Spieltrieb ist eine Vorwegnahme der Börsenzockerei unserer Tage. JR trägt dabei auch Züge einer anderen frühreifen Kinderfigur der amerikanischen Literatur. Wie Huckleberry Finn handelt JR ohne Gewissen, aber mit einem destruktiven Drang, wenn er etwa ausrangierte Spielzeugwaffen in ein afrikanisches Krisengebiet vertickt.

Seine Sprachhandlungen wirken unfertig, nachvollziehbar werden sie erst durch die andere Hauptfigur: Edward Bast, den entlassenen Musiklehrer von JR, einen Mann mit künstlerischen Ambitionen und Prototyp des menschlich Korrekten. Bast fungiert als JRs Strohmann, wickelt Finanztransaktionen von einer Telefonzelle aus ab und kommuniziert mit der Wirtschaftswelt. Er leidet unter Selbstzweifeln und Antriebsmängeln. Seine künstlerische Tätigkeit als Komponist einer Kantate ist ein Gut, das nicht allein von den Gesetzen des Marktes bestimmt wird.

„Geld“ lautet das erste Wort in „JR“. Und Geld ist auch die einzige verlässliche Größe in Gaddis’ Roman, die das Leben der vorkommenden Personen prägt. Sonstige „feste Verhältnisse werden aufgelöst“, um es mit Marx und Engels zu sagen. Die Familienverhältnisse sind dysfunktional, die Arbeitsatmosphären vergiftet.

Basts Refugium ist eine mit unbrauchbaren Waren zugemüllte Wohnung in Uptown-Manhattan, die er zum Komponieren nutzt und in der auch zwei Schriftsteller sowie ein Maler verkehren. Der stillgelegte Kühlschrank dient als Aktenablage, die von der Wanduhr angezeigte Zeit muss mit einem komplizierten Rechensystem an die tatsächliche Zeit angeglichen werden. In der Wohnung fällt die Rede beiläufig auf die Kommunikationstheorie des Mathematikers und Kybernetikers Norbert Wiener. „Je komplizierter die Botschaft, desto größer die Möglichkeit für Irrtümer“, heißt es in einem Abschnitt, der „zu viel Entropie“ beklagt.

Wieners Theorien haben auch in die formale Struktur von „JR“ Eingang gefunden. Zentrale Botschaften und nutzlose Sprachtrümmer stehen im Text in ständiger Konkurrenz zueinander, aber sie ergeben zusammengenommen auch einen dritten Korpus: die mimetische Qualität von direkter Rede. Letztendlich arbeitet sich William Gaddis mit „JR“ an der Frage ab, ob es in dem geregelten Chaos des Kapitalismus überhaupt so etwas wie eine ordnende Hand geben kann.

Neben Salinger und Pynchon gilt William Gaddis als dritter großer Abwesender unter den US-Schriftstellern. Dass er in „JR“ als sprechende Stimme fehlt, ist ein Indiz dafür, dass er Zweifel an der Beantwortung seiner grundsätzlichen Frage gehabt haben muss.

William Gaddis: „JR“. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay und Klaus Modick. DVA, München 2010, 1.039 Seiten, 29,99 Euro