Verstimmte Flügel

NEUE MUSIK Hoffen auf Überwältigung: Warum die Musiktage Donaueschingen so populär sind

Spätestens wenn der erste Geiger und der zweite Geiger die Plätze tauschen, kann man sich sicher sein, dass das Stück bereits begonnen hat. Denn dass die beiden Musiker unmittelbarer vor der Uraufführung eines Streichquartetts noch ihre Position wechseln, ist schlechterdings undenkbar. Genau diese Undenkbarkeit aber nennen wir gemeinhin Kunst.

Das besagte Quartett hat Peter Ablinger komponiert und den Musikern die Partitur erst eine halbe Stunde vor Konzertbeginn in die Hand gedrückt. Die Aufführungsanweisung lautete: Probt dieses Stück auf der Bühne, als gäbe es kein Publikum. Also wurde erst einmal gestimmt und leise diskutiert, eine Passage mit dem Bleistift markiert und gelegentlich auch mal ein kniffliger Takt angespielt. Das Publikum wiederum musste sich mit den Tücken des Vom-Blatt-Lesens zufrieden geben, mit Unsicherheiten der Bogenführung und dem abrupten Ende einer musikalischen Phrase.

Ablingers verweigertes Quartett mit dem Titel „Wachstum und Massenmord“ war Teil eines regelrechten Streichquartett-Reigens, der im Mittelpunkt der diesjährigen Musiktage in Donaueschingen stand. Einen ganzen Tag lang führten drei Quartette acht Stücke auf, einige davon mehrfach. Man knüpfte damit an ein Konzept an, das vor zwei Jahren begann, als sich drei großes Ensembles dem Interpretationsvergleich stellten.

Quartette im Vergleich

Nun galt es dem Streichquartett: Selbst wenn man ahnte, dass das Arditti Quartet (England), das Quatuor Diotima (Frankreich) und das Jack Quartet (USA) eine je unterschiedliche Spielkultur pflegen, dann überrumpelten einen die Unterschiede trotzdem: der wuchtige, kompakte Sound der vier jungen New Yorker, die filigrane Mehrstimmigkeit der Franzosen und die gediegene, fast schon abgehangene Souveränität des Londoner Quartetts. Auch die aufgeführten Werke offenbarten eine breiten Horizont: von der Ablinger’schen Verweigerungsästhetik über die lyrische Komplexität des schottischen Komponisten James Dillon bis hin zu Stücken, die letztlich brav und angepasst wirkten.

Genau deshalb fährt man jedes Jahr ins badische Donaueschingen, um so die Ohren geöffnet zu bekommen. Mit zwanzig Uraufführungen an drei Tagen, mit Klanginstallationen, Improvisationskonzerten und Kammermusik wird das aktuelle Musikleben in seinen vielen Facetten abgebildet. Die Existenzberechtigung aber verleihen dem Festival die Orchesterstücke, ja die Popularität der Musiktage geht ganz wesentlich darauf zurück, dass hier ein massiver sinfonischer Apparat mobilisiert wird, den sich kaum ein anderes Festival leisten kann.

So ein Sinfoniekonzert hat immer etwas Feierliches, wenn 100 schwarz gekleidete Musiker in gedämpftem Licht langsam mit dem Geigenbogen über Styropor reiben, den Kontrabass mit einem Tuch knebeln, um aus der Stille heraus allmählich jenes schlafendes Klangungetüm zu gebären, das der junge englische Komponist James Saunders sich für sein Stück „geometria situs“ erdacht hat. Seinen Gegenpart fand Saunders in „limited approximations“, für das Georg Friedrich Haas das Orchester um sechs Konzertflügel ergänzen und im Zwölfeltonabstand gegeneinander verstimmen ließ.

Zwölfteltöne liegen so eng beieinander, dass sie sich nicht mehr auseinanderhalten lassen, sondern lediglich als Abweichung wahrgenommen werden. Das klingt nach Spielerei und Kopfgeburt. Aber es führte bei Haas zu einem der unglaublichsten Klangeindrücke seit Erfindung der elektronischen Musik, denn das komplette Klangspektrum verschmolz zu einem einzigen Massiv, von dem aus man über das bloß Musikalische hinaus auf etwas anderes, beinahe Metaphysisches blicken zu können meinte. Auch deshalb fährt man jedes Jahr im Oktober nach Donaueschingen, um sich gelegentlich einmal überwältigen zu lassen. BJÖRN GOTTSTEIN