In der Sprache zu Hause

BUCHPREISTRÄGERIN Melinda Nadj Abonji war mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ zu Gast im Literarischen Colloquium Berlin

Wenn Melinda Nadj Abonji vorliest, gibt ihre rechte Hand den Rhythmus ihrer Intonation dirigierend vor

VON DORIS AKRAP

Die wichtigste Figur ist Mamika, die Großmutter. Und eine der wichtigsten Szenen des Romans ist die Autofahrt zur Beerdigung der Großmutter. Das verriet die Autorin Melinda Nadj Abonji über ihren eigenen Roman „Tauben fliegen auf“ am Montagabend bei ihrer Lesung im Literarischen Colloquium Berlin (LCB). Zwar sei die Grundierung ihres Romans, für den sie dieses Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt, biografisch, doch die fiktiven Teile seien für sie genauso bedeutsam, erzählt Abonji. Schreibend habe sie sich Leerstellen ihres Lebens zurückgeholt, so eben beispielsweise die Beerdigung ihrer Großmutter, die sie in Wirklichkeit gar nicht miterlebt habe. „Das war eine Erfahrung, die mir fehlte. Und ich wollte die gern nachholen.“

Vordergründig geht es in „Tauben fliegen auf“ um die Geschichte zweier Töchter, deren Eltern aus der ungarischen Minderheit in der serbischen Provinz Vojvodina stammen und in den 1970er Jahren in die Schweiz ausgewandert sind. Es geht um das Ankommen und Zurechtfinden in einem Land, dessen Sprache man erst lernen muss und in dem ein ähnliches Sprachgewirr herrscht wie in dem Herkunftsland Jugoslawien. Doch die Schwierigkeiten der Eltern und der Kinder mit dem Einfinden in die Kultur, Geschichte und Gepflogenheiten der neuen Umgebung und der Umgang mit den schmerzhaften Erinnerungen und den furchtbaren Neuigkeiten aus der alten Umgebung sind nur die Folie, auf der die Autorin von sich selbst erzählt – vom verbitterten Vater, von ihrer Nase, die jemand mal als „afrikanisch“ bezeichnete, von dem Problem als Jugendliche mit einem im Krieg befindlichen Landstrich identifiziert zu werden, von dem sie selbst viel weniger weiß als die linken Hausbesetzer in Zürich.

Das intelligente Ohr

Sanft schwebt die Hand der Autorin über der Tischplatte auf dem Podest des LCB, deutet Höhen und Tiefen an. Wenn Melinda Nadj Abonji mit ihrer sanften Stimme vorliest, gibt ihre rechte Hand den Rhythmus ihrer Intonation dirigierend vor. Ihr Ohr, erzählt die Autorin im Gespräch mit Thomas Geiger vom LCB, sei ihr intelligentestes Organ. Deshalb habe sie beim Schreiben wie beim Musikmachen wohl auch einen Hang zur Tonalität. Nebenbei ist Nadj Abonji nämlich auch Sängerin und spielt Geige, tritt solo und gemeinsam mit dem Rapper Jurczok 1001 auf.

Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie im gut gefüllten Saal des LCB angibt, dass die Sprache ihre „Heimat“ sei: „Musik mache ich auf Ungarisch, auf Deutsch denke ich, und mit dem Schweizer Dialekt spreche ich. Eine an eine Nation gebundene Heimat existiert für mich nicht.“ Sich in der Sprache zu Hause zu fühlen mag als Aussage einer Schriftstellerin banal klingen. Nadj Abonji macht aber deutlich, dass sie tatsächlich eine ganz eigene Sensibilität für sprachliche Finesse hat. So erzählt sie begeistert davon, dass ihr baskischer Freund, der statt „Ich nehme eine Dusche“ immer „Ich gebe mir eine Dusche“ sagt. Und davon, dass sie es wunderschön findet, wenn serbokroatische Muttersprachler mit serbokroatischer Syntax deutsch sprechen. Man könne darin ein anderes Denken beobachten.

Europäische Erfahrung

Wovon Melinda Nadj Abonji also erzählt, ist letztlich auch eine Aufforderung dazu, die sprachliche Vielfalt einschließlich der Fehler von Nichtmuttersprachlern als Bereicherung zu betrachten. Genauer hinhören, so könnte man ihre Aussage interpretieren, könne auch dazu führen, die Gefühle und Sehnsüchte jener Menschen besser zu verstehen.

Eine kleine gesamteuropäische Sensation ist mit der Vergabe des Buchpreises an Abonji gelungen. „Vorher war ich weder noch“, erzählt Abonji. „Jetzt bin ich alles.“ Erkennbar gerührt und ein wenig stolz berichtet sie am Ende ihrer Lesung davon, dass sie sowohl in der Schweiz und in Deutschland als auch in Serbien und Ungarn gefeiert wird. Eine gesamteuropäische Buchpreisträgerin – eine viel versprechende Entscheidung.