Sprache als innere Landschaft

KLEIST Felicitas Brucker trifft den Ton mit ihrer Inszenierung von „Penthesilea“ am Gorki Theater. Das Wilde der Dichtung wirkt dadurch aber gezähmt

Das Leben ist eine Rutsche, auf der es immer nur bergab geht. Die Liebe ist eine Rutsche, auf der es immer nur bergab geht. Der Krieg ist eine Rutsche, auf der es immer nur bergab geht. Vier Frauen und vier Männer laufen die steile Schräge, die das Bühnenbild in Felicitas Bruckers Inszenierung der „Penthesilea“ im Maxim Gorki Theater beherrscht, immer wieder hoch und rutschen runter, hoch und rutschen runter. Über sie ist manchmal ein Fadenkreuz geblendet, das sie alle unterschiedslos ins Visier nimmt; oder man sieht Detonationen und zusammenstürzende Häuser. Mögen sie als Amazonen und Griechen feindlichen Heeren angehören, der Gewalt des Krieges sind sie gleichermaßen unterworfen.

Einer Festung gleicht die Bühne, von Bretterwänden verengt, gegen die die Amazonen mit ihren Stiefeln lärmend treten, während die Griechen gleich ihre Köpfe und Körper daran knallen, beide von Unruhe und Hunger nach Aktion erfüllt. Die zentrale Rutsche wäre dann die Festungsbrücke, die sich, etwas zu oft, auf und niedersenkt.

Zwei symbolische Bilder beherrschen somit die „Penthesilea“, wie sie Brucker mit ihrer Bühnenbildnerin Kathrin Frosch eingerichtet hat. Das eine ist die Symmetrie zwischen den beiden Heeren, die sich fortsetzt in der Spiegelung einzelner Szenen: So wie Achilles nach der ersten Begegnung mit der Königin der Amazonen wie weggetreten wirkt und nichts mehr hört von der militärischen Logik des Odysseus, so ist auch Penthesilea in einer Vision befangen, die sich nur mit seinem Bild beschäftigt. Wie beide gegen die ihnen vorbestimmte Ordnung (des Krieges) verstoßen, betont schon der Text von Kleist und diese Symmetrie, die von beiden auch jede Schuld nimmt, verstärkt die Inszenierung.

Die große Schräge

Dass sie mit ihrem Ausscheren aus den Mustern, die nur Sieg oder Niederlage kennen, aber auch chancenlos sind, sieht man durch das zweite Bild, die große Schräge, von Anfang an. In diesem mächtigen symbolischen Apparat entfaltet sich Kleists Sprache wie eine feingesponnene Zeichnung. Sie ist nicht mehr selbst die verstörende Macht, das Instrument des Aufbegehrens, der Funke, an dem sich die Fantasie entzündet; sie ist nicht mehr der Keim, aus dem eine barbarische Mythologie wächst, an der sich das Unbehagen gegen die Gegenwart schärft. Warum Kleist, ein preußischer Dichter und junger Offizier, vor mehr als zweihundert Jahren seine Zuflucht in der Antike nahm, beschäftigt diese Inszenierung nicht. Das ist erstaunlich an einem Theater, das auf das Fortleben der Geschichte in der Gegenwart sonst so großen Wert legt.

Davon abzusehen, funktioniert auch als Befreiung. Anja Schneider und Michael Klammer dürfen sich die Sprache Kleists als innere Landschaft zu eigen machen, ein reiches und verwinkeltes Gelände, in das sie mit jedem Halbsatz tiefer eindringen, Entdeckungen machen, nicht weiter wissen, die Richtung verlieren und wiederfinden. Aber aus der Amazonenkönigin und dem Griechenführer wird auch ein Paar, das seine Liebe für Momente leben und genießen darf. Sie baden dabei zusammen in einem Bottich und malen sich nass, zärtlich und nahe eine gemeinsame Zukunft aus. Die, das weiß der Zuschauer freilich ebenso wie Achilles, allerdings auf einer Täuschung beruht.

Die Dramen Kleists können sich wie gewaltige Gebirgsmassive vor Leser und Zuschauer türmen, romantisch in jedem Sinne, voller erschreckender Abgründe, erhabener Höhen, sehnsuchtsvoller Fernen – und damit auch fremd und weit entfernt von unserer eingeebneten Gegenwart. Das nahe heranzuholen, gelingt dieser Inszenierung; der Ton ist nie überhöht, die Kunst wird nicht größer geschrieben als die sie Ausübenden. Das hat etwas sehr Sympathisches, freilich um den Preis, dass auch das Wilde und Grenzüberschreitende der Dichtung wie ein zwischen den Festungsmauern gezähmter Fluss wirkt. KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Wieder im Gorki Theater 26. Oktober, 1. und 13. November