Das Volk unterwirft sich dem Kriegsgott

THEATER Herantasten: Der Regisseur Patrick Wengenroth nimmt das Monsterwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus sehr ernst und bietet im HAU in zwei Stunden ein Surrogat seiner Textarbeit

Die Schauspielerinnen und Schauspieler treten als Homer Simpson verkleidet auf. Ernie- und Bert-Handpuppen unterhalten sich über die Erschießung von Minderjährigen – inklusive des typischen Ernie-Gekichers

VON JÖRG SUNDERMEIER

Es hat etwas von Größenwahn, wenn man sich vornimmt, „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus auf die Bühne zu bringen. Denn das Drama ist so etwas wie der „Ulysses“ der Theaterliteratur: weltbekannt, doch selten gelesen, wahnsinnig umfangreich (die aktuelle Buchausgabe hat über 800 Seiten) und sogar vom eigenen Autor für unaufführbar gehalten. Kraus hat das Riesendrama denn auch selbst zusammengestrichen, doch selbst diese verkürzte Stückfassung ist selten zu sehen. Wer will schon auf Hügel klettern, wenn der Berg unmittelbar daneben steht?

Doch Theaterleute sind unbescheiden. So auch Patrick Wengenroth. Der 34-Jährige macht es sich allerdings nicht leicht. Er hätte das Überdrama zerschlagen, die Handlung verdrehen, die Schauspielerinnen und Schauspieler sich wild austoben lassen können, er hätte sich im Licht des Namens Karl Kraus sonnen können, doch vom Text kaum etwas verwenden. So hätten es viele im Augenblick gefeierte Regisseurinnen und Regisseure an seiner Stelle getan.

Dass er es genau so tut, stand zu befürchten, als man las, dass die Band Die Türen für die Musik sorgt. Würde der Untergang der Menschheit, den Karl Kraus nicht ohne Grund im Ersten Weltkrieg und der mit ihm einhergehenden neuen, „totalen“ Dimension des Krieges erblickt hatte, zu einem Wellness-Stück mit Musikbegleitung werden?

Wengenroth jedoch nimmt den Text ernst, und versucht in zwei Stunden ein Surrogat seiner Textarbeit zu bieten, ein Herantasten und Abstandnehmen. Zum Abstandnehmen dient auch die Band, die nicht in das Stück integriert wird, sieht man von einigen Sounds ab, die der Keyboarder Michael Mühlhaus beisteuert. Maurice Summen und seine Band rocken schweinerockig vor der Bühne, und bieten so – unfreiwillig oder bewusst – jene hüftsteife Männlichkeit dar, über die sich auf der Bühne mehrfach lustig gemacht wird.

Denn die allesamt großartigen Schauspielerinnen und Schauspieler treten zum Teil als Muppet-Puppen verkleidet auf oder als Homer Simpson, Ernie- und Bert-Handpuppen unterhalten sich über die Erschießung von Minderjährigen (inklusive des typischen Ernie-Gekichers), dann wieder sind sie, mit einem Eimer auf dem Kopf, Soldaten seiner Majestät des Kaisers.

Karl Kraus hat Straßenszenen und Zitate zu einem Gesamtbild zusammengefügt; er zeigt, wie sich das Volk der „Dichter und Denker“, für das sich die „deutschen“ Österreicher 1914 hielten, in Monstren verwandelte. Und wie diese aus Sensationslust heraus eine Volksgemeinschaft bildeten, in der sich jede und jeder dem Kriegsgott zu unterwerfen hatte.

Das nimmt Wengenroth sehr ernst und ringt dabei dem Stück viele Gegenwartsbezüge ab, etwa wenn es in schönstem Kraus-Deutsch um die Unbenennung von englischsprachigen Caféhäusern geht, und der beeindruckende Burak Yigit, der einen österreichischen Patrioten gibt, auf dem Rücken seines T-Shirts den Satz „Multikulti ist tot“ trägt, mit dem unsere Kanzlerin gerade vom Sarrazin-Bestseller profitieren will. Allerdings zeigt sich in einer anderen Szene, dass die gleichfalls beeindruckende Vivien Mahler auf der Rückseite ihres T-Shirts den Satz „Keine Macht den Drogen“ trägt, der im Kontext des Stückes nichts zu suchen hat, und daher die Wirkung des ersten T-Shirt-Spruchs relativiert.

Lustige Pinkelorgie

Überhaupt traut Wengenroth der Aktualität seines Stücks am Ende nicht, obgleich etwa der Monolog eines versoffenen Vaterländers, der nach einer lustigen Pinkelorgie von der Vergewaltigung und Ermordung einer serbischen Frau erzählt, dazu passt, dass die Bundeswehr heute im Kosovo den Frieden bringt. Wengenroth befürchtet, mit einem zu klassischen Theater durchzufallen, daher eröffnet er nicht nur das Stück mit Krausens Anmerkungen zum Stück, sondern tritt auch am Ende wieder auf, wenn er die Bühnendeko – ein hausgroßes Kasperletheater – teilweise einreißt, um zuletzt Rainald Goetz‘ Text „Subito“ vorzutragen. Goetz‘ Text ist eine rotzige Reflektion über das verweigernde Mitmachen – über das Verbleiben im Diffusen, sich seines Scheiterns bewusst. Nach der Selbstkritik dürfen die Türen noch einmal rockend unterhalten.

Das halbgare Ende lässt die Frage aufkommen, warum Wengenroth sich eigentlich dieses Dramas angenommen hat. Doch Wengenroth stellt seine Schwierigkeiten mit diesem Stück aus, es ist theaterinterne Reflektion, allerdings nicht L‘art pour l‘art. So kommt es zu gelungenen und weniger gelungenen Szenen. Wengenroth drängt sich schlussendlich sogar vor sein Ensemble. Das klingt egozentrisch. Doch es ist dem Thema, mit dessen Bewältigung schon Kraus Schwierigkeiten hatte, angemessen. Und also überhaupt nicht schlecht.

■ Weitere Aufführungen: 25.10., 26.10., 27.10., Hau 2