Die Spitze der Leitkultur

OPERETTE Sebastian Baumgarten inszeniert an der Komischen Oper „Im Weißen Rößl“ von Ralph Benatzky

Wer mitreden will beim Streit über die deutsche Leitkultur, muss ins „Weiße Rößl“

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Komische Oper tut ihre Pflicht. Wir haben eine christlich konservative Partei an der Macht, die schwer darum ringt, den Begriff des Konservativen zu definieren und dabei nie vergisst, das Wort „Leitkultur“ mit dem Adjektiv „deutsch“ zu verwenden. Falls nun jemand nicht versteht, was deutsche Leitkultur ist, liefert die Komische Oper ein anschauliches Beispiel für die richtige Verwendung dieser Wörter. Sie spielt die Originalversion des „Singspiel“ genannten Stücks „Im Weißen Rößl“, für das der Österreicher Ralph Benatzky zumindest den größten Teil der Musik geschrieben hat. Nein, nicht ganz. Für die Originalversion von 1930 standen Hunderte von Mitwirkenden auf der Bühne, es gab echte Ziegen, ein echtes Postauto und fast echte Berge.

Das „Weiße Rößl“ war der Höhepunkt einer Gattung, die sich im Berlin der Weimarer Republik unter dem Namen „Revue-Operette“ entwickelt hatte. Eine Mischform also, die der klassischen Operette Elemente der amerikanischen Broadway-Show hinzufügte. Produziert wurde sie von Erik Charell, der dafür neben Benatzky fast alles engagiert hatte, was in der damaligen Berliner Unterhaltungsindustrie Rang und Namen hatte, unter anderem Robert Stolz, Robert Gilbert, Eduard Künnecke und Bruno Granichstaedten.

All das muss man im Programmheft nachlesen, wenn man das „Weiße Rößl“ von heute genießen will. Der Regisseur Sebastian Baumgarten hat nichts verändert, sucht keine versteckte Botschaft, nimmt alles hin, wie es gemeint ist, und übersetzt es in die begrenzten Möglichkeiten der Komischen Oper. Die Berge sind als Postkartenansichten an den Rand geschoben, und das namengebende Wirtshaus sieht mit seinem ausgesägten Herzen wie ein Klohäuschen aus.

Eine extreme Sparversion also der Supershow von 1930, die aber alles, was ihr an Breite fehlt, durch Zuspitzung ins Extreme ausgleicht. Die Wirtin Josepha Vogelhuber ist noch ein wenig schriller drauf als nötig, obwohl Dagmar Manzel Schwierigkeiten hat, dieser Rolle Profil zu geben. Max Hopp als verliebter Zahlkellner Joseph stürzt sich dafür umso hemmungsloser in den Schmalz: „Es muss was Wunderbares sein …“, und „Zuschau’n kann i net“ kommen in seiner Badezimmerstimme daher, als seien sie extra für ihn geschrieben. Beides sind Schlager, die man plötzlich wiedererkennt, obwohl man sie doch längst vergessen hat. Wer geht schon freiwillig ins „Weiße Rößl“? In den 50er Jahren vielleicht, als die Filme mit Johannes Heesters und Peter Alexander liefen – aber heute?

Unter Koen Schoots klingt die Musik besser als nach dem Krieg. Man hat letztes Jahr in Zagreb die Originalnoten gefunden, und die Komische Oper leistet sich nun eine kleine Jazzkapelle mit Banjo, ein Streichtrio mit Zither und ein komplettes Polizeiorchester. Das klingt nun alles krachend, schmissig, flott und nur ganz selten so zuckersüß, wie man es so gern aus den Ohren verdrängt hätte. Aber es bleibt auch so beim Alten, korrigiert wird nur die Vorstellung, diese Art der Musik habe sich überlebt. Im Gegenteil, sie ist die Blaupause für fast jeden deutschen Schlager bis heute, keine der Fernsehsendungen mit sogenannter Volksmusik ist denkbar ohne dieses Vorbild.

Deswegen müssen alle, die mitreden wollen beim Streit über die deutsche Leitkultur, in das „Weiße Rößl“ in der Komischen Oper gehen, damit wir wissen, worum es geht. „Was kann denn der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“, singt Peter Renz. Gar nichts kann er dafür, es ist ein Schlager des kommunistischen Juden Robert Gilbert, den Charell in seine Show aufnahm, weil er den Geschmack seines Publikums auf den Punkt brachte. Er ist lustig, dieser Schlager, aber nicht witzig, er ist nachsingbar, aber es fehlen ihm die Melancholie und Eleganz des Wiener Couplets und ganz und gar die Frechheit des Pariser Chansons.

Er ist eben deutsch, und die Komische Oper hat ihre Pflicht getan, wie es nur echte Preußen tun: aus purem Idealismus im Dienst an der Sache. Man muss ihr dankbar sein. Aber als ich nach Hause fuhr, war ich froh, dass aus der Dönerbude an der Ecke ein türkischer Schlager zu hören war.

■ Nächste Aufführungen: 11. und 16. Dezember