MODERNE ÄNGSTE
: Und wir sterben auch

„Da ist meine neue Klassenkameradin“, sagt das kleine Mädchen zu seiner Mutter, als sie über den Kollwitzmarkt laufen. „Die, die immer sagt, du hättest ja jeden Tag denselben Mantel an?“ Das kleine Mädchen nickt.

Sie ist höchstens sechs Jahre alt und beobachtet nun auf ihrer Lippe nagend, wie ihre Klassenkameradin geradewegs auf sie zu schießt. „Was macht ihr hier?“, stellt die Klassenkameradin Mutter und Tochter gleich zur Rede. „Einkaufen.“ – „Und dann?“ – „Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt“, sagt das kleine Mädchen mit leuchtenden Augen. „Waaaas?“ ruft die Klassenkameradin, „das könnt ihr nicht tun!“ – „Wieso nicht?“, fragt die Mutter verwundert. Die Klassenkameradin redet laut: „Meine Eltern haben mir erzählt, dass da zwei Hochhäuser waren, und da sind Terroristen mit Flugzeugen reingeflogen, und da sind tausend Menschen gestorben, und die Terroristen bauen Bomben und bringen die nach Deutschland auf die Weihnachtsmärkte, und da explodieren die dann, und wir sterben auch.“

Das kleine Mädchen ist während der Rede weiß im Gesicht geworden und schlottert am ganzen Körper. „Stimmt das, Mama?“, fragt sie mit leiser Stimme. Die Mutter schwitzt. Und dann fasst sie sich ein Herz. „Jetzt pass mal auf“, sagt sie zu der Klassenkameradin. „Erstens: Glaube nicht alles, was in der Zeitung steht. Zweitens: Ich garantiere dir, dass dir eher ein Dachziegel auf den Kopf fällt, als dass du auf einem Weihnachtsmarkt von einer explodierenden Bombe erwischt wirst, und drittens rate ich dir was: Geh mal auf einen Weihnachtsmarkt, das ist nämlich schön.“

Die Mutter nimmt ihre Tochter an die Hand und geht ab. Die Klassenkameradin bleibt zurück und staunt. Wo sind eigentlich ihre Eltern? KATHARINA HEIN