„Chile leidet an Arteriosklerose“

POETISCHE DOKUMENTATION Nichts geht in der Atacama-Wüste verloren, dort hat der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán „Nostalgia de la luz“ gedreht. Ein Gespräch über Erinnern, Verdrängen und die Gegenwart Chiles

■ Der Dokumentarist: Patricio Guzmán ist 1941 in Santiago de Chile geboren. Er studiert an der Filmhochschule von Madrid mit dem Schwerpunkt Dokumentarfilm. 1973 beginnt er, an der Filmtrilogie „La batalla de Chile“ (Die Schlacht um Chile) zu arbeiten, die Salvador Allendes Regierungszeit und deren jähes Ende dokumentiert; 1979 stellt er die Trilogie fertig.

■ Exil: Nach dem Militärputsch im September 1973 wird Guzmán verhaftet und gefoltert. Nach seiner Freilassung geht er ins Exil, zunächst nach Kuba, später nach Spanien und Frankreich. Heute lebt er vornehmlich in Paris.

■ Seine Filme (Auswahl): „Chile, la memoria obstinada“ (Chile, das unbeugsame Gedächtnis, 1997), „El caso Pinochet“ (Der Fall Pinochet, 2001), „Salvador Allende“ (2004).

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Guzmán, wie kamen Sie auf die Idee, in der Wüste von Atacama zu drehen?

Patricio Guzmán: 1972 reiste ich zum ersten Mal in die Wüste und war begeistert. Die Landschaft ist sehr geheimnisvoll, sie sieht aus wie die Marsoberfläche, der Boden ist rot und hat eine merkwürdige Beschaffenheit, weil er nicht aus Sand ist, sondern aus Salz. Das bedeutet, dass weder Körper noch Gegenstände verwesen; die Wüste ist also ein großer Vergangenheitsspeicher, wie eine Schublade, in der die Vergangenheit der Welt aufgehoben ist.

Was heißt das konkret?

Es gibt Mumien aus vielen Kulturen, Funde, die auf mindestens sechs unterschiedliche Atacama-Kulturen hinweisen. Im argentinischen Teil der Wüste gibt es Dinosaurier-Spuren, und es gibt offensichtlich, tief in der Erde, Meteoriten, da die Kompassnadel in manchen Zonen nicht funktioniert. Es gibt zahlreiche hochmoderne Minen für Kupfer, Gold und Silber, und es gibt, das ist das Wichtigste, riesige Sternwarten. Seit meiner Jugend liebe ich die Astronomie, liebe ich Sciencefiction und Teleskope. Und als ich von den Frauen von Calama erfuhr, dachte ich: Das ist fruchtbares Terrain für einen Film.

Die Frauen von Calama haben während der Militärdiktatur ihre nächsten Angehörigen verloren; sie suchen noch heute in der Wüste nach den Knochen ihrer verschwundenen Männer, Brüder oder Söhne und machen sich dafür stark, dass die Verbrechen des Pinochet-Regimes aufgeklärt werden. Das hat ja auf den ersten Blick nichts mit den Erzählungen der Astronomen und Archäologen zu tun. Was ist es denn, was sie verbindet?

Der Bezug zur Vergangenheit. Mir ging es darum, ein Narrativ zu entwickeln, das mir zu zeigen erlaubt, wie wichtig die Vergangenheit ist. Und zwar nicht nur für uns Menschen, sondern für den gesamten Kosmos. Gleich ob Geologen, Archäologen oder Astronomen: Sie alle beschäftigen sich mit der Vergangenheit, und das tun ja auch die Frauen. Es ist großartig, wenn Gaspar Galaz [ein Astronom, Anm. C.N.] sagt: „Die Frauen machen dasselbe wie ich. Der Unterschied ist, dass ich ruhig schlafen kann, sie nicht. Aber es ist, als wäre mein Vater irgendwo im Sternbild Andromeda, meine Mutter irgendwo in der Milchstraße.“ Dann wüsste er nicht, wo genau er suchen sollte. Und die Frauen wissen ja auch nicht genau, wo sie suchen sollen, so groß ist die Wüste.

Es ist ein starker Augenblick im Film, wenn Violeta Berrios, eine der Frauen von Calama, sagt, sie wünsche sich ein Teleskop, um in die Erde hineinzuschauen.

Man darf den Akteuren die eigenen Thesen nie aufdrängen. Man muss einen Raum schaffen, in dem sie über die Fragen, die man ihnen stellt, nachdenken können. Wenn sie dann zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie man selbst kommen, ist das schön. Als Violeta sagte: „Ich wünsche mir, dass ein Teleskop in die Erde eindringt“, habe ich innerlich gelächelt. Genauso ging es mir, als Valentina, die jüngere Frau, die gegen Ende des Films zu Wort kommt, sagte, dass sie im Weltall die Atome ihrer verschwundenen Eltern sehen kann, dass deren Energie nicht stirbt, sondern in anderer Form weiterlebt. Das ist ihr Trost.

Sie sagen, Sie wollen die Akteure nicht bedrängen. Das heißt ja auch, dass Sie dem Zuschauer nichts aufzwängen wollen. Aber wie macht man das, ganz konkret, beim Drehen: das Gegenüber nicht bedrängen? Dem Film die Freiheit lassen, obwohl man zugleich eine klare These hat?

Der Schlüssel ist, nichts beweisen zu wollen. Der Zuschauer bekommt von mir Anregungen, seine Ideen kann er selbst entwickeln. Und was die Akteure anbelangt, so nähere ich mich ihnen langsam, über viele Umwege. Ich beginne mit Fragen wie „Was macht Ihr Vater?“, „Was machte Ihr Großvater?“ oder „Wo sind Sie geboren?“. Erst allmählich komme ich zum eigentlichen Thema. Und wenn ich Widerstände bemerke, fange ich von vorne an. Die Gespräche dauerten lange, ein, zwei Tage. Man muss dafür sorgen, dass das Gegenüber das Gefühl hat: Jemand hört ihm zu.

Läuft währenddessen die Kamera?

Immer. Allein schon deshalb, weil der Gesprächspartner manchmal etwas Wichtiges sagt, was er niemals wiederholen wird. Dafür muss man gerüstet sein.

In Ihrem Film „Salvador Allende“ sagen Sie: „Die Vergangenheit vergeht nicht“ …

Es gibt eine andere, verwandte Vorstellung: Die Erinnerung besitzt Schwerkraft. Das habe ich einem der Astronomen gesagt, und der hat mich angeschaut wie einen Verrückten, weil man eine Idee aus der Psychoanalyse nicht mit einer Idee aus der Physik verbindet. Aber es stimmt ja doch. Nur in dem Maße, wie man der Vergangenheit gewahr ist, kann man vorankommen. Wenn die Vergangenheit verborgen bleibt, kommt es zu einer Lähmung. Chile ist gelähmt. Es ist ein reiches Land, Santiago sieht stellenweise aus wie eine europäische Stadt, aber es ist ein Land, das an Arteriosklerose leidet, es ist unbeweglich.

Die Frauen, die nach ihren verschwundenen Männern suchen, sind in Chile offensichtlich nicht wohlgelitten. Violeta Berrios sagt einmal: „Wir sind die Lepra von Chile.“ Wie erklären Sie sich, dass es in Chile so wenig Unterstützung, so wenig Verständnis für sie gibt?

Weil die Erinnerung immer schon ein schwieriges Thema gewesen ist. Schwierig und langsam, und das ist überall das Gleiche. In Frankreich spricht man nicht über Algerien und auch nicht über den Nationalsozialismus. Die Kirche hat erst vor fünf Jahren eingestanden, dass sie dem Nationalsozialismus nicht genug Widerstand entgegensetzte. Chirac hat zugegeben, dass 40.000 Kinder vom Pariser Velodrom aus nach Auschwitz deportiert wurden, und er sagte: Das war nicht die Verantwortung der Deutschen, sondern der Franzosen. Das 20. Jahrhundert war eines der Völkermorde, denken Sie nur an Armenien oder an die Roten Khmer in Kambodscha. Pol Pot ist gestorben, ohne je verurteilt worden zu sein, erst jetzt beginnen Prozesse gegen die Verantwortlichen. Und Chile ist eine Insel, isoliert vom Rest der Welt, ganz anders als Argentinien.

Dort spielen Hinterbliebenen-Organisationen wie die Madres de la Plaza de Mayo und die Abuelas de la Plaza de Mayo eine große Rolle in der Öffentlichkeit. Wie erklären Sie sich den Unterschied zu Chile?

In der Wüste von Atacama im Norden Chiles gibt es keine Luftfeuchtigkeit. Das macht sie zu einem der besten Orte auf der Welt, um Sterne, Galaxien und Planeten zu beobachten. Der Essayfilm „Nostalgia de la luz“ (Sehnsucht nach dem Licht), kürzlich mit einem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, beginnt als Dokumentation über die astronomische Forschung, erweitert aber bald sein Spektrum, indem er in der Wüste einen Speicher von Vergangenheit erkennt. Da Körper und Gegenstände hier nicht verwesen, bleibt alles, was war, erhalten – hundert Jahre alte Friedhöfe, in denen die Mumien von Minenarbeitern nur notdürftig bedeckt sind, präkolumbianische Felsgravuren genauso wie die Knochen derer, die zur Zeit der Militärdiktatur hier zum Verschwinden gebracht wurden. Guzmán besitzt die Gabe, vielfältige Bezüge zwischen Archäologen, Astronomen und den Frauen, die nach den Knochen ihrer verschwundenen Männer suchen, herzustellen, und zeichnet dabei nach und nach das Bild eines Landes, das umso mehr von seiner Vergangenheit heimgesucht wird, je mehr es sich davon abwenden will.

■ „Nostalgia de la luz“. Regie: Patricio Guzmán. Essayfilm. Chile, Frankreich, Deutschland 2010, 90 Min.

Es gibt in Argentinien eine politische Bereitschaft, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Néstor Kirchner gab dafür grünes Licht. In Chile kümmern sich die Politiker nicht darum. Was die Verschwundenen betrifft, so sind 40 Prozent der Fälle mittlerweile geklärt – aber nicht, weil sich die Politiker dafür eingesetzt hätten. Das waren die Angehörigen, einige aufrechte Richter, einige aufrechte Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und Zivilisten. In Chile gibt es einen Schweigepakt zwischen den Politikern und den Militärs. Kein einziger Film über die Erinnerung war je im Fernsehen zu sehen.

Ihre Dokumentation „Salvador Allende“ lief nie im chilenischen Fernsehen?

Nie. Im Kino schon, mit 65.000 Zuschauern, das ist ganz gut. Es ist paradox: Man bekommt Filmförderung vom Staat, aber im Fernsehen wird nichts gezeigt. Die Filme laufen auf ausländischen Festivals oder in Cineclubs. Oder die Schulbücher: die Mehrzahl sagt so gut wie nichts über Allende, obwohl seine Regierung in der chilenischen Geschichte den am weitesten reichenden Versuch unternommen hat, das Land zu reformieren. Auch über das Pinochet-Regime wird wenig gesagt, kaum etwas findet sich über die Folter, darüber, dass Frauen von Hunden vergewaltigt, Männer tagelang aufgehängt wurden. In Reiseführern, die ich in Deutschland, Frankreich oder Spanien gekauft habe, steht mehr.

Der Archäologe Lautaro Núñez sagt: Nach und nach würden die Leichen der Verschwundenen wieder auftauchen. Ihre Haltung ist weniger optimistisch, nicht wahr?

Ich glaube, er versucht in diesem Augenblick liebenswürdig zu den Frauen zu sein. Wenn man einen Körper ins Meer wirft, löst er sich auf. Einmal wurde eine Leiche an den Strand gespült, die Hände und Füße waren mit Draht gefesselt, eine Frau, die offensichtlich noch lebte, als man sie ins Meer warf. Das führte zu der Schlussfolgerung, dass es Hubschrauber gegeben haben muss, von denen aus die Leute ins Meer geschmissen wurden. Ein Pilot beichtete das dann auch. Ein paar andere haben auch geredet, einer hat einem Priester gebeichtet, wo ein Massengrab ist, der Priester hat es einem Richter erzählt, aber das sind sehr seltene Fälle. Der Korpsgeist ist in der Armee sehr ausgeprägt. Ganz Chile ist ein unablässiges Verdecken, Verdecken, Verdecken. Wir leben ausschließlich in der Gegenwart, und das hat keinen Sinn.

Aber es ist natürlich auch eine Realität, dass sich kaum jemand erinnern will, eine brutale, wenn Sie so wollen, aber eine Realität.

Ich weiß nicht, wo Chile steht, was das Land will. Man fühlt sich nicht als Teil Lateinamerikas, identifiziert sich weder mit Peruanern noch mit Bolivianern oder Argentiniern. Wir sind eine Art neues Südafrika, eine Enklave, ohne Erinnerung, ohne Indigene, obwohl wir alle einen indigenen Ursprung haben. Dieses Land lebt nirgendwo.