Ein Besucher in fremden Leben

ROMAN Eine Geschichte von Migration, Therapie und Rache: „Kakerlake“ von Rawi Hage

Das letzte Wort hat die Kakerlake, das Tier, das die existenzielle Unbehaustheit perfekt verkörpert

VON KATHARINA GRANZIN

Man möchte zögern, den Protagonisten dieses Romans einen Psychotiker zu nennen. Zwar durchlebt er immer wieder kurze wahnhafte Phasen, in denen er glaubt, eine Kakerlake zu sein. Doch da wir als Leser prinzipiell dazu neigen, uns mit jedem Ich-Erzähler zu identifizieren, nehmen wir auch in diesem Fall die Erzählerperspektive vorübergehend als die unsere an. Sätze wie „Ich war das Insekt in ihrem Rücken“ fassen wir im Übrigen beim Lesen weniger wörtlich als metaphorisch auf.

Sie tarnen das eigentliche Tun des Protagonisten, eines im kanadischen Montreal gestrandeten Immigranten aus dem Libanon, der gewohnheitsmäßig in anderer Leute Wohnungen einbricht. Eine Angewohnheit aus seiner Kindheit, wie wir im Laufe der Sitzungen bei der Therapeutin Genevieve erfahren, in denen der namenlos bleibende Erzähler Teile seiner Geschichte preisgibt.

Der Dieb als Forscher

Als Kind angelernt vom bekanntesten Dieb des Viertels, hat er seine Kunstfertigkeit als Einbrecher sozusagen umgewidmet: Nicht mehr der Bereicherung seines Auftraggebers dient die Einsteigerei, sondern der soziologischen Erkundung (nicht zuletzt im Dienste des Autors) und dem Mundraub. Ansonsten entwendet er lediglich Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die durch ihre bloße Existenz ihre Besitzer als heuchlerisch in ihrer öffentlichen Erscheinung entlarven.

Der Therapeutin, die sich beruflich mit den Kranken vom Rand der Gesellschaft befasst, die Erzählungen des Libanesen aber mit kaum verhohlener Sensationsgier als Abenteuergeschichte konsumiert, klaut der Kakerlakenmann die Pantoffeln – das Symbol häuslicher Geborgenheit. Aus der Bude eines alten algerischen Exilanten, der sich in den Cafés von Montreal mit dem Nimbus des Intellektuellen umgibt und „der Philosoph“ genannt wird, lässt er gebrauchte Pornohefte mitgehen. Überall wo er einsteigt, inspiziert er jedoch zuallererst die Nahrungsmittelvorräte.

Mit der vieldeutbaren Schrecklichkeit von Kafkas Gregor Samsa, den man automatisch assoziiert, hat Rawi Hages Krabbelviehsymbolik wenig zu tun. Der Autor, selbst ein libanesischstämmiger Kanadier, der mit „Kakerlake“ seinen zweiten Roman vorlegt, nutzt die Ungezieferperspektive als Verstärker, als literarisches Makroobjektiv für eine Gesellschaftsbeobachtung von irgendwo da unten. Immer überall dabei ist er, der Kakerlakenkerl, der in seiner Erscheinungsform als Mann durchaus einen Schlag bei den Menschenfrauen hat.

Nichts aber währt lange; und wenn er mal zu einer wiederkehrt, dann als Kakerlake, besessen von Lebensmitteln und dem, was die menschliche Verdauung aus ihnen macht, von der Kanalisation und dem, was durch sie hindurchrinnt. Wenn man die Therapeutin wäre und das wüsste, würde man vielleicht denken, dass der Patient – der einen missglückten Selbstmordversuch hinter sich hat – unbewusst eine Ersetzung vorgenommen hat, die Besessenheit von einem menschlichen Körpersaft, dem Urin, als mentalen Schutzschild nutzend, um die Traumatisierung durch einen anderen menschlichen Körpersaft, das Blut, zu verdrängen.

So gefangen ist der Erzähler in seiner existenziellen Sackgasse, dass der Roman sich geraume Zeit nirgendwohin zu bewegen scheint. Die Entwicklung, die er dennoch nimmt, geschieht fast wie nebenbei. In den Gesprächen, die der Erzähler mit Therapeutin und Bekannten führt, wird stückchenweise seine dramatische Familiengeschichte aufgedeckt, während es ihm auf der Handlungsebene gelingt, einen Job als Hilfskellner und Kloputzer in einem persischen Restaurant zu ergattern. In dieser Umgebung, als Fremder unter Fremden, muss er mit ansehen, wie seine iranische Geliebte mit ihrem persönlichen Trauma konfrontiert wird.

Trauma der Freundin

Auch sie schafft es nicht, selbst damit abzurechnen. Für ihn, den Unbeteiligten, der am eigenen Erlebten fast zerbrochen wäre, ist es jedoch auf einmal möglich, im fremden Schicksal die Rolle des Rächers zu übernehmen. – Das kommt recht plötzlich, aber als echte Erleichterung am Ende dieses existenzialistisch geladenen Romans, dessen Lektüre uns mit seinen schwarzhumorig beschriebenen Alltagsabsurditäten oft sogar amüsiert, aber auch ein klein wenig hat verzweifeln lassen am endlosen Im-Kreise-Rennen seines Protagonisten.

Und sollen wir die plötzliche, drastische Aktivität, die stellvertretende Rache denn tatsächlich als ein glückliches Ende begreifen? Das wohl nicht, denn das letzte Wort hat wieder die Kakerlake. Sie ist das Tier, das die existenzielle Unbehaustheit vielleicht am perfektesten verkörpert. Doch im Gegensatz zum Menschen leidet sie darunter nicht. Für sie zählt nur der Augenblick und der im Spülwasser gefundene Leckerbissen. Warum sollte man da lieber Mensch sein wollen? Das ist ein ganz schön niederschmetterndes Fazit.

■ Rawi Hage: „Kakerlake“. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Piper, München 2010. 311 S., 19,95 Euro