Ansprechbarkeit des Herzens

ROMANE Die Provinz war im zu Ende gehenden Jahr ein großes Literaturthema. Wohnt dort die wahre Avantgarde oder nur das Pack, das sich schlägt und verträgt? Am unterschiedlichsten haben Moritz von Uslar und Andreas Maier über das Leben jenseits der Metropolen geschrieben. Der eine liebt die Leute, der andere hasst sie

Wie sehr lässt man sich auf die Menschen ein, die man beschreibt?

VON SUSANNE MESSMER

Bei uns waren es der Schweinebauer und der Schornsteinfeger. Wenn sie in der elterlichen Küche auf ein Bier blieben oder vier, war der Abend verschenkt. Sie erzählten stürmische Geschichten von der Rosi, der Frau mit den drei Männern, und vom Schorsch, der schwarzbrannte und davon lebte. Sie lachten über Mikes depressiven Dackel und sorgten sich um Heinz, den Maurer mit dem kaputten Rücken, der seine Berufsunfähigkeitsrente versoff. Sie sprachen in Schlingen und Schlaufen, Arabesken und Ausschweifungen – mal reich an drastischen Pointen, mal zum Ausruhen in steilen Sprüchen. Sie sprachen aus dem Dämmerreich der Sensation und Langeweile, und zwar voll professionell.

Ein Tonband, das wäre es gewesen. Man hätte heute einen halben Roman zusammen! Aber nein, das stimmt ja gar nicht. Denn natürlich entsteht auf diese Art kein Roman. Das Material schreibt sich nicht selbst. Der Autor ist nicht tot. Dies zumindest beweisen derzeit wieder einmal zwei deutsche Schriftsteller um die vierzig, die auf dasselbe Material bauen. Moritz von Uslar und Andreas Maier outen sich in Büchern „Deutschboden“ und „Das Zimmer“ beide als leidenschaftliche Mitschneider und Aufschreiber dessen, was sich in der Provinz abspielt. Sie stehen beide unter einem akribischen Beobachtungszwang, dass es eine Freude ist.

Sie belegen aber auch, wie wenig es beim Mitschneiden und Aufschreiben bleiben kann. Was will man durch sein Material hindurch sagen? Und vor allem: Wie ernst nimmt man es? Wie sehr lässt man sich auf die Menschen ein, die man beschreibt? Vielleicht diese Fährte vorweg, eine kleine Betrachtung der Autorenfotos in den Buchumschlägen. Das von Andreas Maier: großer Ernst, Gruppe-47-Hornbrille, ein bisschen wie der junge Uwe Johnson. Das Bild sagt: Dieser feinsinnige junge Mann ist im Betrieb angekommen. Es werden bereits germanistische Seminararbeiten über ihn verfasst. Dagegen Moritz von Uslar: auf dem Sofa mit den Brandenburger Prolls, die er für sein Buch gesprochen hat. Komischer Strohhut. Gesichtsfarbe: versoffen.

Was ist mit diesem Moritz von Uslar? Zur Erinnerung: Hans Moritz Walther Freiherr von Uslar-Gleichen, ehemals Tempo, Erfinder der 100-Fragen-Interviews, Romancier und im Moment Autor für die Zeit, scheint so etwas wie einer der letzten Mohikaner der sogenannten Popliteratur. Während Gesinnungsgenossen wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre in die Ferien oder Richtung Springer Verlag ausgebüxt sind, bewies er sich noch Mitte der Nullerjahre mit seinem Roman „Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005“ als sturer Chronist eines Lebens in Berlin-Mitte.

Die Ängste des Autors

Und dann das: Moritz von Uslar, immer noch Berlin-Mitte, will in die ostdeutsche Kleinstadt, wo die wilden Kerle wohnen, wie er hofft. Mit der angenehm subjektivistischen und selbstreflexiven Beschreibung der Ängste des Autors geht es los. Welche Mutprobe, auch nur eine der Pilzkneipen zu betreten, in der man nach seinem Stoff suchen will! Seinem Sound ist Moritz von Uslar treu geblieben. Es ist die affirmative Jugendsprache des letzten oder vorletzten Jahrzehnts, die ebenso nervt wie ins Buch saugt und übrigens der eines anderen Gesinnungsgenossen und Vorbilds des Autors nicht unverwandt ist: der von Rainald Goetz.

Ganz ähnlich wie Goetz bleibt auch Uslar dem Anliegen der Popliteratur treu. Es geht um Jetztsein, Hiersein, die „Wurzel der Gegenwart“, so in seinen Worten – aber auch um die Sehnsucht des gelangweilten Bohemiens nach dem Wahren und dem Echten. Also: Wie im New Journalism eines Truman Capote oder Hunter Tompson, einem anderen Fixpunkt im Koordinatensystem des Autors: Entgrenzung, Getriebensein und dabei erst mal so wenig wie möglich denken. Szenen statt Fakten, Emotionalität durch Recherche, Fokussierung des Unbekannten. Moritz von Uslar: „Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile. Neonazis interessierten mich nicht. Landpfarrer interessierten mich nicht … Ich hatte keinen Auftrag. Ich war auf keiner Spur.“ Wie bei einem guten Rocksong. Einfach rausgeschüttelt muss er sein.

Jedoch: Gute Rocksongs mögen ohne Masterplan auskommen, ohne Soul schaffen sie es nicht. Bei Moritz von Uslar heißt das: „Zartheit“. Oder auch: „Ansprechbarkeit des Herzens“. Und so kommt es, dass am Ende doch Anliegen durchschimmert bei diesem großartigen Buch über Ost und West, Unterschicht und Upperclass, über Hartz IV und das Leben im Nichts, das auch ein Leben mit Existenzberechtigung ist.

Moritz von Uslar lernt die harten Exnazis mit den volltätowierten Supermuckis, vor denen er sich so fürchtet, nicht nur kennen. Er verliebt sich sogar in sie. Da heißt es in einem dieser schönen Uslar-Schachtelsätze: „Konnte es sein, dass die Jungs – eben weil sie ein Leben außerhalb des Konkurrenzdrucks und der Karrieren führten – schon eine Stunde weiter waren? Konnte es sein, dass wir, die an dem … abgelaufenen Konzept ‚Selbstverwirklichung durch Arbeit‘ festhielten, endlich anfingen, die Benachteiligten, die Randexistenzen der Gesellschaft als das zu sehen, was sie in Wahrheit wohl waren, keine Problemfälle, sondern die Mitte der Zukunft unserer Gesellschaft, die Avantgarde?“

Moritz von Uslar wäre nicht der schlaue Typ, der er ist, würde er diesen Gedanken nicht gleich wieder verwerfen. Und während er noch denkt „alles hipper, neunmalkluger, wohlklingender, ausgedachter Shit“, fragt er seine Helden auf Augenhöhe, was sie von diesem Shit halten. „Da kann ich nichts von unterschreiben“, kontern diese.

Auf schrullige Weise

Anders als Moritz von Uslar schreibt Andreas Maier nun schon seit zehn Jahren über die Provinz und deren Bewohner. Anders als Moritz von Uslar ist Andreas Maier in der Provinz aufgewachsen, die er beschreibt – so richtig in die Flucht geschlagen hat sie ihn bis heute nicht (er schreibt vornehmlich über die Wetterau, einen Landstrich eine halbe Stunde nördlich von Frankfurt, wo er heute lebt). Und trotzdem scheint er zunächst ungebrochen neugierig. Seine Fähigkeit, das Geschwätz der Leute, den Sermon, das Schwadronieren, Gerüchte, Intrigen und die Macht des Hörensagens zu einem herrlich umständlichen und dennoch gut lesbaren Sprachgewebe zu verknoten, bei dem man am Ende amüsiert feststellen muss, dass man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist: Sie ist zu Recht mit der Kunst seines Vorbilds Thomas Bernhard verglichen worden, aber auch mit den Sampletechniken eines Thomas Meinecke oder Andreas Neumeister. Seine Provinzgrotesken sind wirklich auf eine schrullige, widerspenstige Weise interessant.

Wie aber kommt es zu diesem komischen Nachgeschmack, der sich immer wieder einstellt? Erst mit seinem neuen Buch „Das Zimmer“ klärt sich das. Zum ersten Mal hat Andreas Maier nicht nur das Pack, das sich schlägt und verträgt, beschrieben. „Das Zimmer“, so der Autor, sei das erste einer elfteiligen Serie von Büchern, die auf Wurzelsuche geht. „Das Zimmer“ beginnt mit dem Onkel.

Onkel J. ist ebenso Teil der Provinz wie alle, über die Andreas Maier je geschrieben hat, aber es gibt einen Unterschied: Er ist geistig zurückgeblieben und kann nicht richtig mithalten beim Geschwätz. Das macht ihn nicht unbedingt zum heiligen Narren – denn leider erkennt er nicht, dass er damit besser fährt als die meisten. Aber er ist ein unschuldiger Irrer, der am liebsten in den Wald geht und mit den Rotkehlchen spricht. „In Wahrheit ist alles wortlos in meinem Onkel. In Wahrheit spricht er eine ganz andere Sprache, eine vor den Worten, eine, die sowieso immer zwischen den Dingen ist …“ Sätze wie diese muss man erst mal sacken lassen.

Schlimme, anachronistische Sätze sind das. Sätze, die Andreas Maier, übrigens überzeugter Christ und Umweltapostel, ernst meint. Sätze, die seine normative Poetik aufschließen: das Gute und das Böse, das Sprachliche und das Vorsprachliche, das Lügengebäude des menschlichen Zusammenlebens, die Wahrheit des Außenseiters, der sich diesem freiwillig oder unfreiwillig entzieht. Und sogar das: der Bürger und der Künstler. In seinen Poetikvorlesungen, die Andreas Maier 2006 in Frankfurt hielt, brachte er es fertig, seinen wahrscheinlich verdatterten Studenten an den Kopf zu werfen, er sei anders als sie, er falle aus vielem heraus, „aus dem Sie möglicherweise nicht so herausfallen“. Ganz schön frech für einen, der den Außenseiter in seinen Büchern immer als den besseren Menschen beschreibt, der das richtige Leben im falschen sucht. Oder sollten diese Sätze Maiers vielleicht selbstironisch sein?

Ironie oder nicht: Dieser Autor ist Misanthrop. Deshalb muss er seine Romanfiguren auch nicht für voll nehmen. Sie sind blasse Gartenzwerge und Bedeutungsträger. Und seine Bücher schreiben nicht einfach die Wirklichkeit der Provinz ab, sie sind christliche Thesenromane, eine Tyrannei der Werte. Wie kann man einen Menschen dafür verurteilen, dass er ein Autonarr geworden ist? Wie kann man eine Romanfigur durch den Kakao ziehen, nur weil sie ein Auto hat, dieses Möglichkeitsversprechen, das sie, weil sie sonst nichts hat, streichelt und pflegt?

Mein Schweinebauer und mein Schornsteinfeger, sie hätten sich diesen Andreas Maier allein deshalb gründlich vorgeknöpft. Moritz von Uslar dagegen, dem hätten sie auf die Schulter geklopft. Der versteht zwar auch nichts von Autos, aber er hängt trotzdem Stunden mit den Jungs an der Aral-Tankstelle ab und lauscht ehrfürchtig, wenn sie von ihrem „Eins-Achter-Turbo“ schwärmen, von ihren „Sparco-Schalensitzen“ und den „4-Punkt-Gurten“. Wer es in der Provinz aushält, der hat nun mal ein Recht auf Autos.

■ Moritz von Uslars Recherche „Deutschboden“ ist bei KiWi erschienen, Andreas Maiers Roman „Das Zimmer“ bei Suhrkamp