Das Wunderkind

Das kleinste Opernhaus der Stadt, die Neuköllner Oper, hat eine Hauskomponistin. Sinem Altan ist erst 24 Jahre alt und überaus beschäftigt. Ihre neue Oper „Tango Türk“ erlebt in dieser Woche ihre Uraufführung

Zur hiesigen türkischen Community gehört Sinem Altan nicht. „Da gibt es einen Riesenkontrast“

VON KATHARINA GRANZIN

Unter dem Dach der Karl-Marx-Straße 131 herrscht emsiges Gewusel. In der Neuköllner Oper werden zwei Stücke auf einmal geprobt, ein Festival will organisiert werden, und in ein paar Tagen hat „Tango Türk“ Premiere, die neueste Oper von „Composer in Residence“ Sinem Altan, die am Haus kürzlich für „Stadt der Hunde“ verantwortlich zeichnete und ein Jahr zuvor mit „Türkisch für Liebhaber“ aus einem nachgelassenen Mozart-Fragment ein abendfüllendes Singspiel kreiert hatte. Damals stand auch das Stück „Die getauschte Schule“ auf dem Programm, mit Musik, die Altan bereits als Kind komponiert hatte. Mittlerweile ist die Komponistin 24 und unglaublich beschäftigt. Erst vor einer Woche hatte sie die letzte Premiere; im Atze Musiktheater hat sie das Stück „Ayla – Alis Tochter“ musikalisch eingerichtet und sitzt dort für jede Vorstellung selbst am Klavier. Auch bei „Tango Türk“ wird sie häufig die musikalische Leitung übernehmen, wird auch heute schon sehnsüchtig zur Probe erwartet und kann gerade mal so eben einen Pressetermin einschieben.

Wie interviewt man ein Wunderkind? Man wählt den banalstmöglichen Einstieg und äußert, dass die meisten anderen Menschen in ihrem Alter ja nicht annähernd so viel erreicht hätten. „Das höre ich natürlich oft“, gibt Sinem Altan zurück. „Ich kümmere mich ja auch gar nicht um diese Altersklasse.“ Ihre langen Haare trägt sie heute offen. Bei Premieren zeigt sie sich gewöhnlich mit ordentlich hochgesteckter Haarpracht, was ihre Jugendlichkeit etwas verschleiert. Wahrscheinlich nervt es, ständig aufs Alter angesprochen zu werden. Aber wie kommt es zu so einer Ausnahmekarriere? Wunderkinder fallen schließlich nicht vom Himmel? – Die Komponistin erzählt von ihrer Mutter, die sie, einfach weil sie musikalische Bildung wichtig fand, mit fünf zum Klavierunterricht schickte. „Mir hat das keinen Spaß gemacht. Ich war ein richtig wildes Kind, habe viel lieber Fußball gespielt und so.“ Da sie sich furchtbar langweilte mit den Lernstückchen, begann sie, sich selbst welche auszudenken. Und hatte das Glück, aufmerksame Eltern zu haben, die merkten, was das Kind tat, und es am Bilkent Konservatorium in ihrer Heimatstadt Ankara anmeldeten.

Da Komposition normalerweise nicht zur Ausbildung gehört hätte, war es eine glückliche Fügung, dass just zu der Zeit der berühmte aserbaidschanische Komponist Arif Melikov nach Ankara kam und Sinem als seine Privatschülerin annahm. „Ich wusste gar nicht, was das alles bedeutet“, sagt sie und lacht. „Ich habe damals noch nicht einmal wirklich Musik geschrieben, sondern mir Sachen ausgedacht und gemerkt, und andere haben sie für mich notiert.“

Als 1996 die Grundschule zu Ende und Melikov nach Baku zurückgekehrt war, kam die Elfjährige mit einem Bilkent-Stipendium nach Berlin an die Hochschule für Musik Hanns Eisler, die gezielte Nachwuchsförderung betreibt. Die Mutter hatte ihren Beruf aufgegeben, um mit der Tochter nach Deutschland zu gehen – zwei Jahre später kam der kleine Sohn nach –, während der Vater in der Türkei blieb, um für den Unterhalt der Familie Geld zu verdienen. Seitdem führen die Altans ein Familienleben zwischen zwei Welten.

Sinem Altan nimmt das gelassen, ebenso wie die Ausnahmeposition als kulturelle Mittlerin, die ihr quasi automatisch zufällt. Zur hiesigen „türkischen Community“ gehören sie und ihre Familie nicht wirklich, „da gibt es einen Riesenkontrast“, aber auch der deutschen Seite, insbesondere in Gestalt der Einwanderungsbehörden, sei es schwergefallen zu verstehen, was sie eigentlich hier wollten. Sie müsse eben damit leben, ständig Erklärungen abzugeben, sagt Sinem Altan freundlich, „ich habe mich immer in der Lage gefunden, Brücken aufzuziehen.“

Dass dieses Brückenbauen ihr eine Herzenssache ist, merkt man auch ihrer Musik an. Aufs Anregendste verschmelzen darin europäische und orientalische Einflüsse, auch volkstümliche Elemente finden eine neue Heimat, und es würde einem niemals einfallen, dieser Musik vorzuwerfen, sie sei nicht experimentell genug. Altan selbst ist es, die beginnt, sich zu erklären, von Kollegen zu reden, die ausschließlich experimentelle Musik für ein exklusives Publikum schrieben. Sie selbst aber würde sich „total verloren fühlen“, wenn sie begänne, Musik zu schreiben, die unabhängig von jedem Kontext wäre. Dass sie das Thema überhaupt aufbringt, lässt ahnen, dass es eines stabil gewachsenen Selbstbewusstseins bedarf, wenn man, sozialisiert in einer durch und durch intellektuellen Tonsetzerszene, Musik schreibt, die nicht nur durch den Kopf, sondern auch noch durch den Bauch geht. Oder sogar in die Beine. Letzteres wird sich bei „Tango Türk“ überprüfen lassen.

■ „Tango Türk“: 21. 1., 23.–24.1. , je 20 Uhr