Baujahr 1975, unfallfrei

ROADMOVIE Eine Reise nach Sarajevo und in die Vergangenheit: Miljenko Jergovic’ brillanter Roman „Freelander“

„In der langen heldenhaften Geschichte Kroatiens ist kein einziges Wiener Schnitzel je weggeworfen worden“

MILJENKO JERGOVIć, „FREELANDER“

VON DORIS AKRAP

Ein Mann steht vor seinem alten Auto wie ein Hund vor dem Supermarkt. Vor Freude wedelt so ein Hund mit dem Schwanz, wenn das Herrchen aus dem Supermarkt herauskommt, und weg ist die Angst, es könnte für immer darin verschwunden sein. So wie der Hund hat auch Hasan Hujdur, die Hauptfigur aus Miljenko Jergović’ Roman „Buick Rivera“ (2002, auf Deutsch 2006), nur dann das Gefühl, dass sich das Leben lohnt, wenn ihn sein alter amerikanischer Freund, Baujahr 1963, nicht im Stich lässt.

Jergović’ neuer Roman „Freelander“ handelt wieder von einem seltsam vakuumiert lebenden älteren Herren und dessen einzig verbliebener Liebe zu einem Auto, einem Volvo, „orangefarben, Originallackierung, Baujahr 1975, unfallfrei“. Sein erster und einziger Halter ist der 66-jährige pensionierte Geschichtslehrer und Witwer Karlo Adum aus Zagreb. „Freelander“ ist ein Roadmovie, das es an Gewalt, Psychopathologie und Mythenkritik locker mit „Natural Born Killers“ aufnehmen könnte und dessen Figuren am Wegesrand eine Freakshow liefern, die Thomas Pynchon sich nicht besser hätte ausdenken können. Allein, wer schon einmal auf den Landstraßen des ehemaligen Jugoslawien unterwegs war, weiß, diese mitunter unheimlichen, böswilligen, sympathischen und schrulligen Freaks sind real.

Diverse Kriege haben in der Landschaft und bei den Bewohnern Narben und offene Wunden hinterlassen. Die Strecke, die Karlo Adum bewältigen muss, ist die zwischen Zagreb und Sarajevo. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit kehrt er, für alle Fälle ausgerüstet mit einer Pistole im Handschuhfach, zurück in die bosnische Hauptstadt, in der er aufwuchs. Beim Anblick der geschundenen Kulisse aus Minenfeldern, marmornen Friedhöfen, Schrottplätzen, leeren Geisterstädten und betonierten Riesenparkplätzen drängen sich ihm angstbesetzte Erinnerungen an die Kindheit im Faschismus auf, an die Jahre ohne Professur im Kommunismus, an die blutige Idiotie während der Sezessionskriege – und er lernt die noch viel idiotischere nationale Borniertheit des Landstrichs persönlich kennen.

Da sind Kellnerinnen und Auskunftsdamen, „unfreundlich wie der Sozialismus“, da ist eine Fußballmannschaft, deren als billige Schnäppchen-Brasilianer eingekaufte Spieler Makao und Rivelinho in Wirklichkeit Muharem Isajic und Mustafa Selimovski heißen. Oder der CD-Verkäufer Nikolson, der Karlo Adum eine CD des kroatischen Sängers Thompson andrehen will. Doch auf der CD ist nur ein Lied, „Jasenovac i Stara Gradiška“, das aber gleich 20-mal. „Damit Sie nicht jedes Mal neu starten müssen, wenn Ihr Player keine Wiederholfunktion hat“, preist Nikolson seine heiße Ware. Sänger und Song haben eine unverkennbare Nähe zum kroatischen Faschismus. Jasenovac und Stara Gradiška waren die beiden größten Konzentrationslager. Doch der Serbe Nikolson schwärmt: „Und das Lied über die Neretva, wie wir massakriert in der Neretva treiben, das ist sein bestes Lied.“ Nikolson wünscht sich, dass Thompson ein ähnliches Lied für die Serben schreiben würde, wie sie Kroaten massakriert und in einen Fluss geschmissen haben. Die Aufschrift auf einem T-Shirt, das eine andere CD-Verkäuferin ein paar Kilometer weiter trägt, ist dann nur noch ein zynischer Kommentar zu dieser seltsamen Form der Versöhnung zwischen Serben und Kroaten: „Niemals vergessen.“

Doch je ramponierter der Volvo während der Fahrt, desto beschädigter wird auch das Leben des Karlo Adum. Nicht nur die nationale Geschichtsschreibung, sondern auch er selbst, der Geschichtslehrer, entpuppt sich als ein Meister der Verdrängung eigener Schuld, die aber erst erzählt wird, nachdem es so richtig blutig wurde. In den sieben-, achtmal in altem Öl wiederaufgewärmten Cevapcicis und Wiener Schnitzeln eines Schnellrestaurants erkennt Adum denn auch das Substrat des Kroatentums: „Unser südslawisches Schlachten ebenso wie das Aufwärmen toter Schweine und Rinder in kroatischen Nationalgerichten wird nie ein Ende haben. In der langen heldenhaften Geschichte Kroatiens ist kein einziges Wiener Schnitzel je weggeworfen worden.“

Wegen solcher Stiche in die dünne Haut der kroatischen Identität ist Jergović in Kroatien nicht sonderlich beliebt. 2007 trat der 1966 geborene Autor aus dem kroatischen Schriftstellerverband aus. Ähnlich wie Miroslav Krleža ist Jergović den Kroaten ein unvermeidbares Ärgernis, denn ausgerechnet die größten Kritiker des Kroatentums sind international die erfolgreichsten Schriftsteller des Landes.

Als Leser von Jergović’ „Freelander“ steht man wie der Hund vor dem Supermarkt. Immer wieder freut man sich über die brillant bösen Schilderungen der landesüblichen Spezialitäten, die der Autor einem wie einen Hundeknochen hinwirft. Und gleichzeitig lässt er uns mit der Angst zurück, dass hinter einem schrulligen CD-Verkäufer ein echter Schlächter stecken und der hingeworfene Hundeknochen vergiftet sein könnte.

Miljenko Jergović: „Freelander“. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2010, 232 Seiten, 19,90 Euro