„Potenziale für neue Wirklichkeiten“

GEGENWARTSKUNST Inzwischen ist ein Blick auf die Transformation des Westens fällig: Ausstellungschefin Kathrin Rhomberg über ihre Pläne zur Berlin Biennale und den deutschen Realisten Adolph Menzel

■ Die Österreicherin: geboren 1963 in Bludenz, Vorarlberg. Studierte in Salzburg Kunstgeschichte. Leitete das Ausstellungsbüro der Secession in Wien.

■ Die Migrantin: Von 2002 bis 2007 war sie Direktorin des Kölnischen Kunstvereins. Ebenfalls von 2002 bis 2006 hatte sie (gemeinsam mit Marion von Osten) die künstlerische Leitung des von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Projektes „Migration“ inne.

■ Die Biennale: 2008 wurde sie zur Leiterin der Berlin Biennale berufen. Die 6. Berlin Biennale eröffnet im Juni und umfasst die drei Ausstellungsorte Alte Nationalgalerie, KW Institute for Contemporary Art und Oranienstraße 17.

INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH
UND BRIGITTE WERNEBURG

taz: Frau Rhomberg, Sie sagten kürzlich, die im Juni startende Berlin Biennale würde sich einem Titelthema verweigern. Warum?

Kathrin Rhomberg: Damit meine ich: Die Berlin Biennale will die künstlerischen Positionen nicht alle über ein bestimmtes Thema spiegeln. Wir gehen eher von einer These aus.

Und die wäre?

Die vergangenen beiden Jahrzehnte standen im Zeichen fundamentaler Einschnitte: Finanzkrise, 9/11, der Mauerfall und damit das Ende der Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Was als gesichert galt, ist es nicht mehr. Die Fluchtpunkte sind verloren gegangen. Damit hat sich auch das Verhältnis der Kunst zur Gegenwart verändert. Für mich erstaunlich, ist im westlichen Kunstsystem zuletzt aber eine starke Tendenz zu Formalismus und Eskapismus beobachtbar. Auf solchen widersprüchlichen Wahrnehmungen baut die Berlin Biennale auf.

Können Sie das etwas veranschaulichen?

Ich möchte im Vorfeld keine bestimmte künstlerische Einzelposition hervorheben. Aber wer sich in den vergangenen Jahren mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt hat, wird das offensichtliche Interesse an der Moderne, an einem retrospektiven Blick bemerkt haben. Wobei es schon auffallend ist, dass Künstler, die nicht aus den bisherigen Zentren der Kunst kommen, ein anderes Verhältnis zu Kunst und Wirklichkeit haben.

Und zwar welches?

Es ist erst mal von einem anderen Interesse geleitet. Der Theoretiker Boris Groys hat sehr genau beschrieben, wie Künstler und Literaten im Kommunismus versuchten, Wirklichkeit zu beschreiben. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben sich solche Positionen aus dem früheren Osteuropa weiter entwickelt. Ähnliches lässt sich auch für die Kunst im Nahen Osten, Südamerika oder Asien behaupten, wo die politischen Verhältnisse oft so prekär sind, dass die Künstler nicht umhinkönnen, sich diesen Wirklichkeiten zu stellen.

Was meinen Sie mit Wirklichkeit? Das Soziale lässt sich doch nicht einfach in die Kunst übertragen, oder geht es Ihnen um dokumentarischen Realismus?

Nein, ganz und gar nicht. Der dokumentarische Blick interessiert mich weniger, eher die Frage nach der Produktion von Wirklichkeit. Kunst hat das Potenzial, Wirklichkeit zu produzieren. Ein Beispiel dafür war für mich etwa die Installation der Künstler Roman Ondáks im slowakischen Pavillon während der letzen Biennale von Venedig. Er hat dabei den Pavillon vollständig geöffnet und die umgebende Landschaft in seinem Innenraum übernommen. Was war Kunst, was Natur, was Wirklichkeit?

Dürfen wir Abstraktion auch außerhalb von Konzeptkunst erwarten, wird abstrakte Malerei auf der nächsten Berlin Biennale vertreten sein?Malerei ist in diesem Zusammenhang eine große Herausforderung. Natürlich stellt jede Ausstellung auch die Frage nach den Möglichkeiten in der Malerei heute.

Sie sind Österreicherin, waren zuvor Direktorin des Kölner Kunstvereins und haben für die deutsche Bundeskulturstiftung am Projekt „Migration“ kuratorisch mitgewirkt. Wie nehmen Sie als Neuberlinerin die deutsche Hauptstadt wahr?

Sehr kosmopolitisch. Berlin ist dem vergleichbar, was New York Ende der 1970er- und 80er-Jahre war. Der Unterschied ist vielleicht, dass viele, die hierhergezogen sind, kein Deutsch und damit die Alltagssprache nicht sprechen. Die nach New York gingen, konnten ja zumeist Englisch und sich rasch mit den lokalen Kontexten auseinandersetzen. Viele hier in Berlin bewegen sich zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit. Der Philosoph Zygmunt Bauman prägte für solche Lebenssituationen den Begriff der Flüchtigkeit. Ein weiterer auffälliger Aspekt ist die zunehmende Zentralisierung in Deutschland, für die Berlin steht. Damit droht das Potenzial der vielen anderen Städte, wie etwa Köln, Frankfurt oder Hamburg mit ihren jeweils unterschiedlichen intellektuellen Diskurstraditionen, verloren zu gehen.

Mit der Berlin Biennale gehen Sie im Juni nach Kreuzberg in die Oranienstraße. Warum ausgerechnet dorthin, warum bleiben Sie nicht in Ihrem Domizil in den Kunstwerken in Mitte?

Der Blick auf den Westen ist heute viel aufschlussreicher als der Blick auf den Osten. Der Westen hat unglaubliche Transformationsprozesse vollzogen, deren man sich nur selten bewusst ist. Für diesen Perspektivenwechsel ist Berlin-Kreuzberg besonders interessant. Der Bezirk ist sehr stark migrantisch geprägt und repräsentiert damit einen wesentlichen Aspekt der Zukunft unserer Gesellschaft. In der Kunst scheint dieses Bewusstsein im Gegensatz zum Neuen Deutschen Film noch kaum angekommen zu sein.

Sie haben sich also bewusst für Kreuzberg entschieden?

Es hätte genauso Schöneberg, Charlottenburg oder Wilmersdorf sein können. Doch in Kreuzberg bietet sich durch die Tradition, verschiedene Realitäten denken zu können, ein besonderer Bezugsrahmen.

Historisch wollen Sie die Biennale an Adolph Menzel rückbinden, einen deutschen Realisten des 19. Jahrhunderts. Warum gerade Menzel?

Adolph Menzel ist eine wichtige künstlerische Referenz. Er hat im Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Hauptwerke geschaffen. Ein Geschichtsabschnitt mit vielen Parallelen zur Gegenwart, eine Zeit mit unglaublichen Umbrüchen. In Berlin hat sich die Bevölkerung in wenigen Jahren verdoppelt. Es gab starke Verwerfungen – von Stadt und Land und zwischen den Klassen. Begriffe wie Entfremdung wurden entwickelt, um die neue Wirklichkeit greifbar zu machen. Menzel hat in der Phase nach der Revolution von 1848 ein neues Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit hergestellt. Die damaligen Krisenerfahrungen ziehen sich durch die Geschichte und die Kunst bis heute. Mit Menzel lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit erneut stellen.

„Schon auffallend, dass Künstler aus neuen Zentren ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit haben“

Um Menzel wird sich bei der Biennale der New Yorker Kunsthistoriker Michael Fried kümmern. Warum Fried?

Es lag nahe, einen wirklichen Menzel-Kenner dazuzuholen, zudem einen, der nicht deutschzentriert denkt. Wir werden die Werke Menzels parallel in der Alten Nationalgalerie zeigen, die Positionen aus dem 19. Jahrhundert also nicht einfach mit zeitgenössischen vermischen.

Außer über den Fotografen Michael Schmidt ist über die teilnehmenden Künstler der Biennale wenig bekannt. Warum die Geheimniskrämerei?

Um die Künstler zu schützen, damit sie in Ruhe arbeiten können. Ein guter Teil der eingeladenen 45 Künstler produziert für die Biennale neue Arbeiten. Der Zeitvorlauf ist sehr gering.

Machen Sie thematische Vorgaben?

Nein. Ich habe die Künstler aufgrund ihrer Positionen eingeladen. Ende April wird die Liste bekannt gegeben. Schmidt und Menzel bilden aus unterschiedlichen historischen Epochen einen Referenzrahmen. Schmidt ist ein Berliner Fotokünstler, der die älteren und die jüngeren Teilnehmer verbindet. Wir zeigen von ihm in diesem Kontext eine Serie, an der er seit dem Ende der 1990er gearbeitet hat. Er ist dezidiert kein dokumentarischer, sondern ein realistischer Fotograf. Mit seinen Fotografien gehen wir in den öffentlichen und den medialen Raum, zeigen sie ausschließlich dort und nicht in der Ausstellung.

Das Vorlaufprogramm zur Berlin Biennale nennt sich „Artist Beyond“. Was wollen Sie dem Publikum damit sagen?

Wir haben jüngere Künstler eingeladen, in ihren Herkunftsregionen zu arbeiten und dann ihre Produktion dort und in Berlin der Öffentlichkeit zu präsentieren. Etwa Petrit Halilaj aus dem Kosovo. Oder Phil Collins, der ehemalige Staatskundelehrer aus dem Osten nach Manchester eingeladen hat, um für Schulen dort einen Unterrichtsplan für Marxismus und Leninismus zu entwickeln.