Essay zur Finanzkrise: Tragödie oder Komödie?

Idealisiertes Bild von der Antike, moderne Griechen als abgeklärte Trickser: Der griechische Schriftsteller Petros Markaris über deutsche Mythen und den neuen Zyklopen Finanzmarkt.

Symbol der griechischen Antike: die Akropolis in Athen. Bild: dpa

Der griechische Premierminister Giorgos Papandreou verkündete von der idyllischen Insel Kastellorizo, dass Griechenland offiziell das Hilfspaket der EU und des IWF beantragen würde, und bereitete die Griechen auf eine "neue Odyssee" vor. Am nächsten Tag erinnerte ihn ein Kolumnist daran, dass am Ende der Odyssee allein Odysseus Ithaka erreicht. Keiner seiner Weggefährten überlebt die Reise. Es dauerte nicht lange, bis sich die Prophezeiung des Kolumnisten als wahr erwies. Die ersten drei Weggefährten starben bereits auf ihrem Weg nach Ithaka, in einer brennenden Bank in Athen am Mittwoch, dem 5. Mai, das heißt zurück in die Siebzigerjahre, in die wir jetzt wieder hingehören.

Ich weiß nicht, warum der griechische Premierminister nicht Ithaka gewählt hat, um die neue Odyssee zu verkünden. Vielleicht weil er selbst ahnte, dass das, was Griechenland heute erlebt, nicht mit einem Epos zu vergleichen ist. Es erinnert vielmehr an eine Tragödie. Die Epen erzählen von großen Begebenheiten der Vergangenheit, um es nach Goethe zu sagen. Griechenland erlebt heute keine große Begebenheit, sondern eine miserable Realität, die noch weit davon entfernt ist, Vergangenheit zu sein. Wenn die Griechen sich dagegen in der antiken Tragödie umschauen würden, dann hätten sie sofort den passenden Chor zu ihrer Lage gefunden. Es ist der Chor aus den "Trojerinnen" von Euripides, die ihr Klagelied auf den Ruinen Trojas erheben. Ein einfallsreicher Regisseur hätte sogar dem Frauenchor einige Griechen, vorzugsweise Rentnerinnen und Rentner, hinzugefügt.

Die Tragödie, die sich allerdings am 5. Mai in Athen abgespielte, war "Sieben gegen Theben" von Aischylos, in der sich die zwei Brüder von Antigone, Eteokles und Polyneikes, gegenseitig abschlachten. Die Tragödie, die auf "Sieben gegen Theben" folgt, als zweiter Teil sozusagen, ist die "Antigone" von Sophokles, in der Antigone ihre zwei Brüder zu begraben versucht und auf den Widerstand Kreons stößt. Die Griechen hatten am Anfang gehofft, dass Frau Merkel die Rolle der Antigone übernehmen würde. Sie zog aber ziemlich lange die Rolle des Kreon vor und hat die Griechen, die jetzt gezwungen waren, die Rolle der Antigone selbst zu übernehmen, daran gehindert, ihre Brüder, in diesem Fall ihre Schuldenberge, zu begraben. Denn die Beziehung der Griechen zu ihren Schulden ist mittlerweile fast eine brüderliche.

Ich habe jedoch meine Zweifel, ob Frau Merkel eine tragische Figur ist. George Bush jr. war ja auch keine, obwohl er mehrere Tragödien ausgelöst hat. Tragische Figuren zeichnen sich nicht durch Härte aus, sondern durch Leiden und Erliegen. Willy Brandt war eine solche Figur, zum Beispiel. Frau Angela Merkel erinnert mich eher an die Lysistrata von Aristophanes.

Ähnlich wie Lysistrata, die den Krieg zwischen Athen und Sparta zu beenden bemüht ist, so ist auch Frau Merkel, zumindest in den letzten Tagen, bemüht, den Absturz des Euro zu stoppen. Ob es ihr gelingen wird, wie Lysistrata, bleibt noch offen, so wie es offen bleibt, ob wir die Krise überleben werden. Erst ihr Scheitern würde aber Frau Merkel zur tragischen Figur erheben.

Die Deutschen glauben, dass sie die griechische Antike so gut beherrschen wie kein andere europäische Nation, besser sogar als die Griechen. Das ist zwar übertrieben, falsch ist es aber nicht. Jeder, der den zweiten Teil von Goethes "Faust" gelesen hat, weiß sofort, wie vertraut die Antike den Deutschen war, um von Benjamin Hederich und sein "Gründliches mythologisches Lexikon" oder Eduard Zeller und seine "Philosophie der Griechen" ganz zu schweigen. So könnte man auch erklären, warum die Wut der Deutschen uns gegenüber etwas Antikes hat. Sie wollen, dass wir Gift trinken, wie Sokrates, weil wir gegen die Gesetze verstoßen haben.

Leider haben aber die Deutschen die Antike so stark idealisiert, dass ihre menschliche Seite und ihr Alltag einfach verschwunden sind. Wieder ein Blick in den zweiten Teil von Faust genügt. Goethes Arkadien in der Helenentragödie hat nie existiert, weder im Altertum noch heute. Und in der Gestalt des Euphorion kann man den großen Unterschied zwischen den Deutschen und den Engländern sehen. Goethe idealisiert Lord Byron als Euphorion. Lord Byron selbst aber wollte nicht das antike Hellas retten, sondern an der Seite der einfachen, illiteraten griechischen Landwirte und Hirten gegen die Osmanen kämpfen. Das ist, was einige Zeitschriften und Zeitungen wie Focus oder Bild nicht verstehen können. Sie halten uns vor, dass wir in zweitausend Jahren keinen neuen Platon, Sophokles, oder Perikles hervorgebracht haben, folglich seien wir ein Haufen von Gescheiterten. Sie glorifizieren zwar das antike Athen, ihre Haltung ist aber jene der Spartaner. Weil sie idealisieren, können sie nicht sehen, dass der Treffpunkt zwischen dem neuen und dem antiken Griechenland nicht die großen Tragiker oder die Philosophen sind, sondern der Alltag.

Der Alltag der antiken Athener, ihre Mentalität, die Art und Weise, wie sie ihre Geschäfte führten, ihr Tricksen mit den Gesetzen, all das ist den Neugriechen sehr nah und sehr vertraut. Das war auch der Grund, warum die Spartaner die Athener so abschätzig bewertet haben. Das Leben in Sparta war zwar sehr geordnet, sehr diszipliniert, aber auch sehr fade. Das war es nie in Athen. Nicht im antiken und, trotz der Misere, auch nicht im modernen.

In diesem Sinn ist auch Aristophanes den modernen Griechen viel näher als die Tragiker, obwohl sie es kaum noch merken. Man braucht nicht lange im Werk von Aristophanes zu suchen, um das passende Stück zu finden. Es ist "Plutos" (der Reichtum). Aristophanes hatte die geniale Idee, den Reichtum als blind darzustellen. Alle im Stück versuchen den Reichtum an sich zu reißen, und der lässt sich alles gefallen, weil er blind und wehrlos ist. Sieht man den heutigen Plutos auch als Blinden, dann fügt sich alles ein: die Griechen, die Deutschen, die Eurozone, die Finanzmärkte, die Banken, die Spreads - alles. Denn auch heute wird Plutos herumgezerrt, und er kann sich nicht wehren, weil er blind ist.

In letzter Zeit hört man immer mehr Stimmen, die befürchten, dass die neue griechische Odyssee sich zu einer europäischen ausweiten könnte. Hoffentlich werden dann die Regierungschefs der Eurozone, wenn sie vor dem neuen Zyklopen stehen, der heute der internationale Finanzmarkt ist, auf dessen Frage "wer bist du", nicht wie Odysseus mit "niemand" antworten müssen.

Denn das wird dann keine schlaue Antwort sein, sondern die reine Wahrheit. Vielleicht werden aber auch dann die Europäer zu der Einsicht kommen, dass das Problem in der EU kein primär finanzielles, sondern ein politisches ist.

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