Versuch über das kleine Glück im Tempelhofer Park

TIEF LEBEN Die Nuancen zwischen Windstärke zwei und drei: Was ergreift einen so in der neuen Weite mitten in Berlin?

VON DIRK KNIPPHALS

Am besten pilgert man zum Tempelhofer Wiesenmeer gleich morgens um 9 Uhr, wenn die Inlineskater gerade erst zur Arbeit gegangen sind und die Drachenfliegenlasser bestimmt noch schlafen. Man steht dann auf der Rollbahn, auf der Hitlers Ju 52 landete und dann die Rosinenbomber der Amerikaner. Und was man hier und heute sieht, ist – Weite. Rundherum, in alle Richtungen, zwei Kilometer Gras und ganz klein nur, irgendwo dahinten, der Fernsehturm. Wenn man Glück hat, gibt es auch eine Lerche (und keine Nachtigall), die flatternd steigt und jubilierend singt, immer höher steigt und immer weiter singt, bis einem vom Zusehen der Nacken ganz steif wird.

Die Frage ist: Warum ergreift einen das so? Ein Zurück zur Natur ist es nicht; weil man ja keine Sekunde vergisst, dass man sich in der Mitte der großen Stadt befindet. Eine Irritation der gängigen Wahrnehmungsweisen von Stadt (so weit weg kann man also mittendrin sein)? Ein kleiner Schock für die üblichen Rezeptionsmechanismen von Park (sehen die sonst nicht anders aus)? Solche Denkfiguren treffen etwas, zielen aber insgesamt daneben. Weil Unruhe und Sich-orientieren-Müssen ja gleich in Geborgenheitsgefühlen münden: Gleich hinter Kreuzberg, wenige Meter hinter der nächsten Dönerbude, kann einen also so etwas wie unentdecktes Land erwarten! Toll.

Gleich spielt man mit Geschichten von einem anderen Leben. Man nimmt sich vor, einmal auf die Schattierungen des Lichts an den wechselnden Tageszeiten zu achten und auf die Nuancen zwischen Windstärke zwei (nach Beaufort: „Blätter rascheln, Wind im Gesicht spürbar“) und Windstärke drei („Blätter und dünne Zweige bewegen sich, Wimpel werden gestreckt“). Und dass man schon im Sich-vornehmen weiß, dass man so etwas eh nie machen wird, macht gar nichts. Die Geschichten, die man sich hier selbst erzählt, sind schön.

Aussteigerträume? Ein bisschen. Und das Gute ist: Man braucht sie gar nicht auszuleben. Man muss sich nicht, wie Thoreau seinerzeit, eine Hütte vor den Toren der Stadt bauen. Man kann sich auch so sein Leben für einen Augenblick ein wenig eigentlicher erzählen, bei sich seiender, auch heroischer („Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“, Thoreau „Walden“); denn das ist es, was man inmitten der Weite tut: Man füllt sie sich mit Geschichten.

In Berlin erzählt man sich derzeit andere Geschichten. Ängstliche von einem Gentrifizierungsdruck in den Stadtteilen um den Park. Hoffnungsfrohe von Einnahmen durch Geländeverkäufe. Aufgeregte, was man hier alles für Events starten könnte. Das muss alles auch sein. Aber man hat derzeit eben auch die Chance, sich ganz eigene Geschichten zu erzählen. Wirklich wahr: Hier, im nun auf dem Gelände des ehemaligen Tempelhofer Flughafens eröffneten Tempelhofer Park (größer als der New Yorker Central Park!), sind großartige Erfahrungen zu machen, die man sich nicht entgehen lassen sollte.