Fröhliche Anarchie

FILMGESCHICHTE Irgendetwas passiert immer, Wandlungswunder und Verzauberungen stellen sich ein, nur einfach geradeaus geht es fast nie in den Filmen von Miguel Gomes. Zu überprüfen bei einer Retrospektive im Arsenal

Spuren der Filmgeschichte blitzen auf wie Brotkrumen im Mondlicht

VON EKKEHARD KNÖRER

Wollte man sagen, alle Filme von Miguel Gomes seien auch Musicals, es wäre nicht falsch. Zu Beginn seines ersten Langfilms „A Cara que Mereces“ („The Face You Deserve“) spazieren eine schöne Frau und ein Mann durch einen Märchengarten, und sie singt schöne Lieder dazu. Der Kurzfilm „Entretanto“ („Meanwhile“) eröffnet mit Doris Days „Que sera, sera“ auf der Tonspur. Und im bislang jüngsten Film, „Aquele Querido Mês de Agosto“ („Our Beloved Month of August“), der den 1972 geborenen portugiesischen Regisseur Miguel Gomes zu einer Art Festival-Shootingstar gemacht hat, steht im Zentrum der Handlung eine Band, die Schlagermusik spielt.

Falls man das so sagen kann: im Zentrum der Handlung. Denn erstens ist es bei Gomes-Filmen eigentlich so, dass sie zentrumlos sind. Sie machen Bewegungen überallhin, aber einfach so vorwärts (schon gar geradeaus) unterwegs sind sie nicht. „A Cara que Mereces“ besteht aus zwei Teilen, die mit „Theater“ und „Masern“ überschrieben sind. Wer dabei an die surrealistische Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch denkt, liegt nicht ganz falsch. Was beide Teile des Films verbindet, sind Schneewittchenmotive. Die männliche Hauptfigur aus Teil eins verschwindet im zweiten und macht einer Horde aufs Äußerste kindischer Erwachsener Platz, die in einem Haus im Wald allerlei Schabernack treiben.

Bleibt zweitens das Problemfeld „Handlung“. Davon gibt es in Gomes-Filmen verlässlich zugleich zu viel und zu wenig. Irgendwas passiert immer. Ein Feuerwehrauto fährt durch die Gegend, ein Regisseur und sein Team stellen Dominosteine auf, Jungs üben beim Rugby seltsame Haltungen, die Kamera verliebt sich aus nächster Nähe in Spielzeug, ein Troubadour zieht in der Gegenwart singend als Franz durch Assisi, und irgendwer erzählt auf der Tonspur Märchen mit Großmüttern und Wölfen. Arm an Ereignissen sind diese Filme nicht, aber sie bleiben von Anfang bis Ende Geschehensansammlungen auf der Suche nach einem bindenden Band.

Im Irrgang Schätze finden

Oder nein, auch wieder falsch. Die Filme sind’s ja zufrieden zu sein, wie sie sind. Immer neugierig auf das nächste Bild, die nächste Figur. Und der Zuschauer ist es auch, stets gespannt auf die Szene, die folgt, die Verbindung, die sich wie von selbst herstellt, den Abzweig, den Irrgang, den Holzweg, auf dem sich dann prompt Schätze und Reichtümer finden. Wandlungswunder und Verzauberungen stellen sich ein. So wird „Aquele Querido Mês de Agosto“, ein Film, der als Dokumentation einer ländlichen Gegend Portugals anfängt (oder anzufangen schien), recht unversehens zum Spielfilm, in dem die zuvor dokumentarisch porträtierten Figuren als Darsteller wiederauftauchen.

Aber ist nun „unversehens“ wieder das richtige Wort? Ganz ohne Zweifel ist nämlich Miguel Gomes alles andere als ein naiver Regisseur. Der Epilog/Abspann des „August“-Films etwa treibt die Selbstreflexivität des Ganzen in einer Diskussion zwischen Tonmann und Regisseur auf die Spitze; aber das bleibt ganz entspannt, keine aufgesetzte, angestrengte Pointe. Einer von vielen Einfällen, denen Gomes ohne Masterplan folgt. Und zwar sieht man in seinem Werk auf Schritt und Tritt Spuren der Filmgeschichte wie Brotkrumen, die aufblitzen, wenn das Mondlicht des Films darauf fällt; nie aber ist das überschlau oder clever. Eher unterhalten diese Filme Wahlverwandtschaftsbeziehungen zu dem, was sie lieben.

Nicht zufällig erinnern die Bewegungsarten von Gomes’ Geschichten an die kühnen Spielzügen in den Filmen von Jacques Rivette. Alles ist hier Spiel oder kann es werden, aber der Film und die Spieler passen höllisch darauf auf, dass dabei niemals so etwas wie ein Regelwerk entsteht: immer nur „play“, niemals „game“; fröhliche Anarchie, nie verbissener Kampf. Ein Kommen und Gehen von Regeln, ständiges Gleiten auch der filmischen Formen. Wäre das Werk von Miguel Gomes ein Haus, eines etwa wie das in „A Cara que Mereces“, man stünde immer wieder vor verschlossenen Türen und machte sie auf, und es warteten Zeichen und Wunder dahinter. Ein immerwährendes Weihnachten also: mit Theater und Masern, mit Schneewittchen, Springteufeln und portugiesischer Schlagermusik.

■ Retrospektive Miguel Gomes, ab 27. 5., im Arsenal