Ans Selbstgespräch gefesselt

ERINNERUNG Christa Wolf lässt nicht locker. Schreiben heißt für sie: Selbsterkundung. Denn nur das Durchgearbeitete kann bewältigt werden. Dieses Credo ist Motor und Problem ihres neuen Romans „Stadt der Engel“

Vielleicht gibt es dieses numinose Zentrum ja gar nicht, das ihre Erinnerungsarbeit immer umschleicht

VON JÖRG MAGENAU

Las Vegas ist nicht unbedingt der Ort, an dem man Christa Wolf vermutet hätte. Lange ist sie dort auch nicht geblieben. Beim Roulette setzte sie sich ein Limit von 60 US-Dollar und hörte dann auf. In die einarmigen Banditen steckte sie noch lustlos ein paar Münzen, bis sie früh und müde zu Bett ging. Der Spielhölle glücklich entronnen: Was irdische Vergnügungen angeht, ist sie nicht so leicht zu verführen.

Diese Szene steht am Ende ihrer vom Verlag kühn als „Roman“ bezeichneten, fiktional überhöhten Erinnerungsprosa „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ – ein Buch, in dem es durchaus um Verführbarkeit geht. Und erst hier, bei einer Fahrt zu den Navajo- und den Hopi-Indianern, gelingt es ihr endlich, loszulassen und sich nur für das zu interessieren, was ihr begegnet: die Landschaft und die Menschen. Die Reise endet nicht zufällig im „Death Valley“, wo sie in eine Traumvision hinübergleitet. Ein Sog „vom Ende her“ grundiert das ganze Buch. Mit dem Alter nähert sich der Tod; da ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.

Die Monate zuvor – von September 1992 bis Mai 1993 war Christa Wolf Gast des Getty Center in Los Angeles – dreht sich fast alles um sie selbst und ihre Geschichte, um ihr Leben in der DDR und im Sozialismus, vor allem aber um den Schock, den sie erlitt, als ihr in der Gauck-Behörde im Sommer 1992 nicht nur die 42 Ordner ihrer sogenannten „Opfer-Akte“ vorgelegt wurden, sondern auch eine dünne Mappe, der sie entnahm, in den Jahren 1959 bis 1962 von der Stasi als „IM“ geführt worden zu sein.

Das Kürzel „IM“ wirkte im Jahr zwei des wiedervereinigten Landes vernichtend. Zu Differenzierungen war eine moralisch aufgeladenen Öffentlichkeit nicht in der Lage. Und nun hatte es ausgerechnet die große Moralistin Christa Wolf erwischt. In „Stadt der Engel“ erzählt sie davon, wie aus dem Faxgerät in L. A. die Zeitungsartikel herausquellen, die sie nur schwer ertragen kann. In einer besonders drastischen Szene rettet sie sich dadurch, dass sie die ganze Nacht hindurch Lieder singt, von „Das Wandern ist des Müllers Lust“ bis zu „Spaniens Himmel breitet seine Sterne“, von „Ein feste Burg ist unser Gott“ bis zu den Versen, die sie wohl einst im „Bund deutscher Mädel“ sang und die sie erschrocken wieder abbricht: „Was fragt ihr dumm, was fragt ihr klein, warum wir wohl marschieren“.

Die ganze deutsche Geschichte fließt in diese Nacht der Lieder ein, das ganze Gefühlskuddelmuddel einer Generation, die aus ihrer jugendlichen Prägung durch Christentum und Nationalsozialismus die eine Gewissheit ableitete: „Nie wieder!“ – und damit die Notwendigkeit und Legitimität des antifaschistischen Staates begründete. Der Sozialismus war das Gegenteil von Faschismus, ganz einfach. Doch jetzt war dieser Staat Geschichte und mit ihm auch die eigenen Überzeugungen. Christa Wolf spricht nicht von „Wende“, sondern von „Untergang“. War also alles vergeblich? Was ist die Lebensanstrengung noch wert?

Ihre Zweifel reichen tiefer, als nur der doch eher äußerlichen IM-Episode nachzuspüren. Diesbezüglich bietet der Roman nichts Neues. Wie auch: Schließlich hat sie sich schon 1993 den Fakten gestellt, hat Günter Gaus auf seine Fragen „Zur Person“ geantwortet und ihre „Täterakte“ in dem Band „Akteneinsicht“ vollständig publiziert. Die Frage, warum sie vor fünfzig Jahren mit der Stasi sprach und ein paar Berichte schrieb, ist ja leicht zu beantworten: Weil sie jung und unbedarft war, weil auch die Stasi noch nicht die Stasi war, und weil ihre eigentliche Lebenszeit als Schriftstellerin – und das heißt für Christa Wolf: als Selbsterkunderin – noch nicht begonnen hatte. Dafür bräuchte es aber den Aufwand, den dieses Buch betreibt, nicht. Schwieriger ist die Frage, wie sie die IM-Episode so restlos vergessen konnte. Weil sie marginal und nicht wichtig gewesen ist, wäre eine zu einfache und auch für sie selbst nicht zufriedenstellende Antwort. Denn dieses Vergessen stellt ihr ganzes Werk als eine große, gegen die Verdrängung anschreibende Erinnerungsbewegung infrage.

Am Ende von „Kindheitsmuster“ hieß es vor mehr als dreißig Jahren: „Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung zu beweisen, dass es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: sich nicht kennen lernen wollen?“ Das christliche Vokabular ist unverkennbar, und auch im neuen Buch ist viel von Schuld die Rede. Christa Wolf ist eine Autorin der verinnerlichten Moral oder, wie sie selbst sagt, des „preußischen Protestantismus“.

All diese tapferen Frauen

Der Aufenthalt im fernen L. A. gibt bloß den äußeren Rahmen für eine tendenziell unendliche Selbstbefragung. Die Ich-Erzählerin will dort einer gewissen L. auf die Spur kommen, die in den dreißiger Jahren ins amerikanische Exil ging. Emma, eine Freundin, die in vielem an Anna Seghers erinnert, hat der Erzählerin die Briefe dieser L. hinterlassen. Mit ihr – aber auch in der Lektüre der Tagebücher von Thomas Mann – bringt Christa Wolf das Exil als Vorgeschichte der DDR in die eigene Lebensbilanz ein. All diese tapferen Frauenfiguren sind Spiegelungen, Möglichkeiten, Positionen innerhalb der sozialistischen Weltbewegung. Daneben stehen Jüdinnen, ein Analytiker, ein Philosoph, mit denen die Erzählerin sich in L. A. anfreundet und denen gegenüber sie das neue Deutschland mit seiner alten Geschichte repräsentiert. Das ist in der Zeit brennender Asylantenheime keine leichte Aufgabe. Doch kaum jemand ist so wehrlos gegenüber Schuld wie Christa Wolf, die schon beim Anblick von Homeless People oder bei der Lektüre von Art Spiegelmans Holocaust-Comic „Maus“ in Tränen ausbricht.

Los Angeles, die „Stadt der Engel“, ist für Christa Wolf nur als Ort der Geschichte relevant. Feuchtwanger, Brecht, Einstein, die Brüder Mann – das sind ihre Identifikationsgrößen. Für Hollywood und die Filmindustrie interessiert sie sich kaum. Was für ein Stoff wäre das gewesen: die industrielle Produktion von Illusionen mit den eigenen Lebensillusionen kurzzuschließen und den Utopien des Sozialismus die Utopien Hollywoods entgegenzusetzen. Doch leider: nichts davon. Wenn die Erzählerin abends in ihrem Zimmer „Raumschiff Enterprise“ anschaut, ist ihre Begeisterung von kindlicher Unbedarftheit.

Das ganze Gefühls-kuddelmuddel einer Generation, die eine Gewissheit hatte: Nie wieder!

Seit 1992 ist viel Zeit vergangen. Christa Wolf hat lange nach einer adäquaten Form für ihren Lebensstoff gesucht. Schließlich hat die lange Dauer es ihr erlaubt, eine zweite, distanzierende Zeitebene einzuführen: den Augenblick der Niederschrift, das Hier und Jetzt, dicht an der Gegenwart, von der aus sie auf die Monate in L. A. zurückblickt. Diese Konstruktion kam bereits 1976 in „Kindheitsmuster“ zur Anwendung, dem sie nun ihr „Lebensmuster“ folgen lässt. Damals erzählte sie von einer Reise in ihren Geburtsort Landsberg an der Warthe und nutzte die verschiedenen Zeitebenen, um unterschiedliche Grade der Distanz und der Durchdringung des Stoffs deutlich zu machen. Erzählen, heißt es jetzt, vollbringe das Wunder, „die Zeitschichten rückblickend und vorausschauend zu durchdringen“. Das ist vergleichsweise banal, doch darüber hinaus haben die Zeitschichten in „Stadt der Engel“ keine Funktion. Es gibt keine Differenz zwischen der Erzählerin der Gegenwart und derjenigen von 1992. Sie gleichen sich, als ob die Zeit stehen geblieben wäre und Christa Wolf immer noch ganz am Beginn ihrer Selbstbefragung stünde. So wirkt „Stadt der Engel“ bei aller subjektiven Dringlichkeit ein wenig gestrig. Alles, was seither geschah – Kriege, Erdbeben, Machtwechsel und so weiter – bestätigt und überbietet nur ein ums andere Mal ihre düsteren Zukunftsvisionen: Die Welt ist, mit Kassandra-Augen gesehen, immer schon „heillos“ gewesen. Nun ist ihr aber auch noch die Utopie abhanden gekommen.

Es sind vor allem die amerikanischen Freunde, die ihr nahelegen, die Sache mit der Stasi und der eigenen Schuld nicht ganz so ernst zu nehmen. Aber Christa Wolf lässt nicht locker. Sie muss dann schon ihre ganze apokalyptische Grundstimmung aufbieten, um sich ein wenig von sich selbst zu entlasten: „Die Erde ist in Gefahr“, schreibt sie am Ende, „und unsereins macht sich Sorgen, dass er an seiner Seele Schaden nimmt.“ Das klingt nach Brecht und dem Gespräch über Bäume: Auch das Selbstgespräch kann ein Verbrechen sein.

So gesehen müsste Wolf ihre Erinnerungsanstrengungen einer grundsätzlichen Revision unterziehen. Vielleicht ist ja am fortgesetzten Erinnern etwas falsch? „Stadt der Engel“ folgt dem alten Imperativ aus „Kindheitsmuster“, „sich kennen lernen zu wollen“ – wie ja schon der Bezug auf Sigmund Freud im Titel verrät. Aber: Führt sich eine biografische Suchbewegung nicht ad absurdum, wenn im Alter von achtzig Jahren immer noch ein „blinder Fleck“ gesucht wird und ein zentraler, geheimnisvoller Punkt im Ich „umschlichen“ wird? Vielleicht gibt es dieses numinose Zentrum ja gar nicht, das ein wenig an Kants unerkennbares „Ding an sich“ erinnert. Müsste Christa Wolf nach ihrem Stasi-Gedächtnis-Debakel nicht ihre Methode ändern? Weil sich herausgestellt hat, dass der Wille zum Erinnern vor dem Vergessen und Verdrängen nicht schützt? Was, wenn sich herausstellt, dass Erinnerungen nicht mehr sind als ein Arsenal brauchbarer Erfindungen?

Bewältigung, trotz alledem

Doch Wolfs Moral basiert auf der Aufrichtigkeit des Erinnerns. Der Antifaschismus ist ja eine Erinnerungsmoral: Wer vergisst, öffnet der Wiederkehr die Tore. Auch die Psychoanalyse basiert auf dem Credo, dass nur das Erinnerte und Durchgearbeitete „bewältigt“ werden kann. Amerika als das Land der Psychoanalyse wäre ein geeignetes Pflaster gewesen, diesen Glauben einmal grundsätzlichen Zweifeln auszusetzen. Das hat Christa Wolf nicht getan. Sie setzt die alte Methode der selbstquälerischen Erinnerungsarbeit fort, als wäre nichts gewesen: Bewältigung, trotz alledem. Nur so funktioniert ihr Erzählen. Daraus besteht ihr Werk. Und das möchte sie eben doch nicht infrage stellen.

Christa Wolf: „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 416 S., 24,80 Euro

Jörg Magenau veröffentlichte 2002 „Christa Wolf – Eine Biografie“ (Kindler Verlag)