„Das Konzert ist teilweise im Dunkeln“

REINIGENDE ERFAHRUNG Der Cellist Alban Gerhardt kann mit Klassiktraditionen wenig anfangen. Gegen neue Aufführungspraxen hat er nichts. Heute führt er im Radialsystem alle Cellosuiten von J. S. Bach am Stück auf

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME

taz: Herr Gerhardt, Sie spielen heute Abend Bachs gesamte Cellosuiten. Welches Publikum schwebt Ihnen vor?

Alban Gerhardt: Ich vermute mal, die Leute im Radialsystem gehen nicht dahin, um gesehen zu werden, sondern wahrscheinlich, weil sie das mal ganz interessant finden, sich alle Bach-Suiten an einem Stück anzutun. Den Erwartungsdruck spüre ich jetzt schon, und ich habe mich selten so gut vorbereitet. Bei einem Publikum, das Ahnung hat und vor dem ich Respekt habe, werde ich nervös.

War das Ihre Idee mit den kompletten Suiten in einem Abendprogramm?

Ich spiele sie Ende Juli auch bei einem Festival im italienischen Stresa, wo jedes Jahr ein Cellist alle Bach-Suiten spielt. Eigentlich wollte ich mir den Sommer freihalten, aber der Ort soll wunderschön sein, und ich werde nicht so oft gefragt, alle Bach-Suiten zu spielen. Es ist wirklich eine reinigende Erfahrung, wenn man zwei Wochen nur Bach spielt, keinen anderen Ton. Danach spiele ich ganz anders Cello. Um die Frage zu beantworten: Als ich Folkert Uhde vom Radialsystem kennenlernte und ihm ein Festival mit klassischer Musik vorschlug, war er ganz angetan. Wir sprachen dann auch über die Bach-Suiten, und er meinte: Machen wir die doch als Testballon, um zu sehen, was für ein Publikum in Berlin vorhanden ist.

Was erwartet das Publikum heute Abend außer Musik?

Folkert Uhde fand die Idee nicht schlecht, die Suiten in unterschiedliche Lichter zu tauchen. Die eine Suite machen wir ganz schwarz, das mag ich sehr gern. Ich übe auch wahnsinnig gern im Dunkeln. Wenn man nichts mehr sieht, dann ist die Konzentration am allergrößten. Diese fünfte Bach-Suite ist so eine dunkle und tieftraurige, melancholische, dass das vielleicht ganz gut passt. Und ich sitze an verschiedenen Orten im Saal. Dann gibt es wohl auch nicht die üblichen Sitzreihen, damit die Leute lockerer und nicht so eng dasitzen und nicht fühlen, sie dürften sich nicht bewegen. Es darf sogar dabei getrunken werden. Damit es ein bisschen entspannter ist, ohne dass Bach gleich zur Hintergrundmusik wird.

Sie engagieren sich für neue Hörerschichten bei Klassikkonzerten und spielen für das Projekt „Rhapsody in school“ auch in Klassenzimmern. Halten Sie das heutige Konzert für einen sinnvollen Ansatz, neue Hörer zu gewinnen?

Das ist bestimmt ein sinnvoller Ansatz, ich finde aber auch ein normales Konzert völlig geeignet. Als ich klein war, gab es einen ganz anderen Dresscode in den Konzerten. Das ist jetzt viel lockerer. Es stört mich auch nicht, wenn Leute zwischen den Sätzen klatschen. Ich habe mich mal mit einem Dirigenten unterhalten, der meinte, es fehlt ihm etwas nach dem ersten Satz des Dvorak-Cellokonzerts, wenn nicht geklatscht wird, weil das so ein großartiges Stück ist, das so pompös endet. Doch es braucht nicht unbedingt neue Formate. Diese Lounge ist für die Bach-Suiten keine schlechte Idee, aber da kriegt man natürlich nicht so viele Leute rein. Und wie soll man ein Orchester bezahlen, wenn da nur noch 400 Hanseln sitzen, weil das alles so total aufgelockert ist?

Also Lockerheit ja, aber in begrenztem Rahmen?

Die Musik sollte man schon ernst nehmen, aber sich selbst nicht so bierernst. Viele Musiker nehmen sich so wahnsinnig wichtig. Das überträgt sich dann aufs Publikum, und manche Leute fühlen sich dadurch außen vor gelassen. Aber eigentlich ist die Musik für alle. Wenn ich in so eine Schulklasse gehe, finden die oft die komplizierteste Musik am besten. Und für mich ist Bach die komplizierteste Musik. Mir geht es darum, das Glück zu vermitteln, das es mir gebracht hat, ein Instrument zu lernen, als ich klein war.

Sie stammen aus einem Musikerelternhaus, Ihr Vater war Geiger bei den Berliner Philharmonikern. Wurde Ihnen da Grundlegendes vermittelt, was das Musikerdasein angeht?

Gute Frage. Eigentlich werden ganz wenige Kinder von Musikern selbst Musiker. Die meisten meiner Kollegen haben Lehrer oder Ärzte als Eltern, aber nicht unbedingt Musiker, weil das eher abschreckend wirkt. Viele mögen Musik auch nicht mehr, wenn sie Profis waren. Und mein Vater hat Musik immer geliebt, er hat nie über sein Leben als Orchestermusiker geschimpft, er hat es immer ganz hochgehalten. Deswegen spiele ich oft, wenn ich mit Orchestern als Solist spiele, in der zweiten Konzerthälfte im Orchester mit, wenn die mir es erlauben. Denn von Herzen bin ich eigentlich Orchestermusiker. Das ist ein großartiger Klang.

Wie gehen Sie als Solist an Bach heran? Sie haben geschrieben, dass die „Wahrheit der Interpretation“ in einem selbst liege. Was haben Sie bei Bach gefunden?

Was habe ich denn dabei gemeint? Also, die Wahrheit steckt bei Bach nicht rein im Notentext. Der ist gerade bei Bach ziemlich flach. Da stehen ja keine Anweisungen drin. Bei modernen Komponisten sind oft viel zu viele Anweisungen, wir können uns überhaupt nicht mehr frei bewegen, weil jeder Quadratmillimeter vorgegeben ist. Bei Bach sind 80, 90 Prozent eigener Input. Man muss da wirklich in sich reingehen und versuchen, irgendeiner Wahrheit nahezukommen. Aber die Wahrheit habe ich garantiert noch nicht gefunden.

■ Alban Gerhardt, „Bach-Marathon“, heute im Radialsystem V, Beginn: 20 Uhr