KLASSENDÜNKEL IST DER MOTOR DER KAMPAGNE GEGEN STRESS IM NETZ
: Hallo Hauptschuhle

Bestellen und versenden

VON ARAM LINTZEL

Als adoleszenter Indiepop-Fan war es einst das Schlimmste für mich, wenn eine obskure Lieblingsband von blöden Medien entdeckt wurde. Nach dieser Logik könnte man sich jetzt darüber ärgern, dass neulich in einer großen Titelgeschichte im Spiegel über Muße im digitalen Zeitalter das „I would prefer not to“ aus Herman Melvilles „Bartleby, The Scrivener“ empfohlen wurde. Die traurige Bartleby-Figur ist in kulturlinken Szenen – an Theatern, an Unis, in der Literatur, in der Popmusik – seit nunmehr einem Jahrzehnt zur eingängigen Chiffre geworden.

Das „Ich würde lieber nicht“ des Bartleby steht für die Kleine Weigerung und – im Anschluss an Giorgio Agamben und Gilles Deleuze – für ein Denken der Potenzialität. Doch wird sich kaum jemand über die Popularisierung im Spiegel ernsthaft erregen, schließlich weiß doch längst jeder, dass sich die Welt nicht mehr nach Indie und Mainstream sortieren lässt. Die Vereinnahmungsbeschwerde taugt nicht mehr so recht als kritische Haltung, so viel ist klar.

Das Blinken und Bimmeln

Trotzdem ist es bemerkenswert, wenn Bartleby als literarischer Kronzeuge gegen den „digitalen Wahnsinn“ (Spiegel) und für einen Alltag mit Muße statt Stress herhalten muss. Denn in dem Spiegel-Artikel von Susanne Beyer, dem die diversen Selbstversuche zum Internetverzicht als thematischer Aufhänger dienen, ist unschwer zu erkennen, dass in solchen kulturkritischen Affekten gegen das digitale „Blinken und Bimmeln“ (Beyer) ein neoaristokratischer Abschottungswunsch am Werk ist. Während Bartleby sich mit seinem höflichen „I would prefer not to“ gegen die Zumutungen der Macht wandte, geht es nunmehr gegen die Zumutungen der Masse, ihre hohle Betriebsamkeit und Gschaftlhuberei. Bartleby wollte unten bleiben, die neuen Mußefreunde wollen oben bleiben – oder zumindest dort hinkommen. Der Massendünkel wird so zum Klassendünkel.

Aus den veröffentlichten Ausstiegsfantasien dieses Sommers spricht jenes „Pathos der Distanz“, über dessen Träger Friedrich Nietzsche schrieb, dass sie sich „als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen. Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften“. Die aktuelle Lust aufs Ausloggen nimmt in diesem Sinne Abstand und ist keineswegs eine in alle Richtungen offene, wertfreie Angelegenheit.

„Was gieng sie die Nützlichkeit an!“, schrieb Nietzsche in „Zur Genealogie der Moral“ über die ersten „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten“. Jenseits des kleinkarierten Funktionalismus, von dem sich auch die neuen Internet-Asketen angeekelt abwenden, warten aber noch ganz andere Tatbestände. „Die Dummen gehen zur Arbeit, die Schlauen pennen aus“ – diese „Null Bock“-Auslegung der Bartleby’schen Renitenz würde im unverkabelten Muße-Eldorado denn auch kaum gut ankommen. Sie stammt von der Hamburger Band Hgich.T. Diese hat eben ihr erstes Album vorgelegt, nachdem sie schon länger als Youtube-Phänomen unterwegs war.

Die Songs auf „Mein Hobby: Arschloch“ zeigen, dass man den Bartleby-Ethos nicht unbedingt im Sinne eines Klassenwechsels nach oben deuten muss. Den Mittelschichts-Kunsthochschultypen von Hgich.T geht es vielmehr um einen Klassenverrat, der nach unten weist. In Songs wie „Hauptschuhle“, „Harz For“ oder „Tanke“ eignen sie sich die Codes sogenannter Unterschichtenkulturen an und über-ästhetisieren diese. Zugleich legen sie die Projektionen auf „mindere“ Lifestyles offen: das Phantasma, dass es dort mehr Sex und Exzess, überhaupt ein „Mehr an Genießen“ (Jacques Lacan) gebe. Hgich.T lassen es rappeln und zappeln, sprich: Es „blinkt“ und „bimmelt“ nicht nur, sondern ballert auch musikalisch wunderbar. Dem Pathos der Distanz setzen sie ein Pathos der Nähe entgegen, eine Unterschichten-Mimikry, die ihre Energie aus einer rätselhaften Überidentifikation zieht und nicht mit Solidarität oder irgendeiner Moral verwechselt werden sollte.

Die Künstlerschweine

Sicherlich gibt es nicht nur für den Manufactum-shoppenden Geschmacksadel auf dem Radl gute Gründe, Hgich.Ts Trashtechno mit spitzen Fingern anzufassen. Denn ihr regressiver Humor trägt pennälerhafte Züge und auch die haschinduzierten Beschreibungsketten nach dem Muster „Ich mache x, dann mache ich y, dann mache ich z“ werden mit der Zeit mühselig. Trotzdem macht diese Verblödungsoffensive prima Laune. Niemand ist vor ihr sicher. Die bewegende Powerballade „Künstlerschweine“ könnte da durchaus als symbolischer Angriff auf all jene verstanden werden, die sich bis heute beflissen bei Bartleby bedienen, um ihr Künstlerschaffen mit Verweigerungs-Appeal aufzupeppen.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin